Der Guru

Wir nähern und nun dem für westliche Kriterien möglicherweise heikelsten Thema, was die tantrische Tradition betrifft.

Das Guru-Schüler-Verhältnis ist in den meisten spirituellen Wegen Indiens ohnehin schon unerlässlich. Im Tantra allerdings wird der Guru als eine Verkörperung der göttlichen Inspiration gesehen und gilt als lebender Gott unter Menschen, ist dadurch an sich schon unfehlbar. Der Schüler unterwirft sich dem Guru in der Initiationszeremonie ganz und gar – von ihm wird erwartet, dass er alle Befehle des Guru befolgt und niemals an ihm zweifelt. Das gilt im hinduistischen wie im buddhistischen Tantra.

Man könnte es so erklären, dass Guru und Schüler eine Art „therapeutisches Bündnis“ eingegangen sind, aber nicht, um eine psychische Krankheit zu heilen, sondern um über bestimmte Bedingtheiten des Seins hinauszugehen. Wenn der Schüler das Ziel erreicht hat, ist er „neugeboren“ und bedarf des Guru nicht mehr, die Beziehung ist dann zu Ende.
Manchmal braucht es für jede Einweihung einen anderen Guru, der zu dieser Stufe der fähigste ist.
Meist gibt es 3-4 Einweihungen auf dem tantrischen Weg. Die erste ist in der Regel mit einem persönlichen Mantra verbunden. Der Guru ist da bei Gefahr und unterstützt in schwierigen Zeiten. Er erkennt die Veranlagung, das adhikara des Schülers und führt ihn entsprechend. Schließlich belehrt er nicht nur durch Worte, sondern auch durch Schweigen und Meditation.
Der Guru weist im Laufe der Entwicklung auf Hilfsmittel hin, jedoch sollte der Schüler eifrig sein und selbst entdecken, was er braucht.  

Eigenschaften des Guru
Warum ist ein Guru für die tantrische Praxis notwendig? Anand Nayak nennt drei Kriterien:
-  erstens, er ist unerlässlich für Unterricht und Supervision, da er die Lehren genau kennt und die Fortschritte des Schülers beurteilen kann. Entscheidend ist, dass der Guru ein wirklicher Meister ist, der nicht nur Buchwissen hat, sondern die spirituellen Lehren erfahren hat und weitergeben kann.  Der Guru sollte jemand sein, der weiß, wohin die Reise geht und alles selbst erfahren haben.
- Zweitens, als Eingeweihter in eine Übertragungslinie kennt er die geheime Bedeutung der oft obskuren tantrischen Texte, die er dem Schüler von „Mund zu Ohr“ überträgt
- Nicht zuletzt besitzt ein tantrischer Guru die Fähigkeit, bestimmte Energien direkt zu übertragen und die Kanäle des Schülers für bestimmte Energiephänomene zu öffnen, wenn dieser dazu bereit ist, er ermöglicht ihm also Erfahrungen, die ohne ihn gar nicht möglich wären. Diese Phänomen, nennt man Shaktipat, auf deutsch in etwa Kraftladung.

Verhältnis zum Guru
Guru und Schüler müssen einander erkennen, und die Gefühlsbindung ist ähnlich wie bei einer Ehe. Der tantrische Guru ist zugleich Ausbilder, Meister, Bewahrer der Tradition, ein Führer, der Zweifel beseitigt, Unterweisungen gibt, Techniken vermittelt und Praxis anleitet.
Ein altes Sprichwort sagt, dass der Guru erscheint, wenn der Schüler bereit ist.

Andre von Lysebeth ist der Ansicht, dass zwischen Guru und Schüler kein Gehorsamsverhältnis und kein Ausbeutungsverhältnis besteht, sondern eine intime und sehr persönliche Beziehung, die mit den Jahren immer nivellierter und ausgeglichener wird.

Der tantrische Guru
Nicht alle spirituellen Gurus sind tantrische Gurus, und nicht alle verwirklichten Tantriker sind Gurus.
Die Rolle eines tantrischen Gurus ist, zu initiieren, Ermächtigung und Segnung zu verteilen.
Manche Gurus sind sogar über die physische Dimension gelangt und können mystische Formen von sich in die physischen Bereiche projizieren, und so Visionen, Träume usw. erzeugenund gelten als Siddhas.

Der innere Guru
Der eigentliche und tiefste Guru aber ist das Selbst. Im tieferen nondualen Verständnis ist der verkörperte Guru nur der Widerschein der eigenen Zielgestalt, jemand, der eine strahlende Verkörperung der eigenen innewohnenden Möglichkeit ist und als Quelle der Inspiration das Ich motiviert, zu wachsen. Mit zunehmendem Wachstum kann die Projektion immer weiter zurückgenommen werden. Schließlich ist sie dann aufgelöst, wenn der Schüler denselben Status erreicht hat wie der Lehrer.

Im heutigen Westen wird die Guru-Schüler-Beziehung nicht mehr so absolut gesehen. Problematische Elemente werden stärker diskutiert, z.T. wird das ganze Konstrukt in Frage gestellt. Inwieweit das bedeutet, dass Tantra für den heutigen Westen gar keine reale Möglichkeit mehr darstellt, wird von mir an anderer Stelle ausführlich diskutiert.


Die Einweihung 

Einweihung ist im traditionellen Tantra ein zentrales Element. Man könnte sagen: im traditionellen Kontext ist Tantra-Wissen kein öffentliches Wissen, sondern Einweihungswissen und wird nur an jene herausgegeben, die sich einem Guru anvertraut haben.

Die Schrittfolge ist analog zu den Veden: der Schüler bittet den Meister um Aufnahme, wenn dieser dazu bereit ist, nimmt er ihn formal auf. Mit der Einweihung ist oft ein Mantra, eine Praxis, bestimmte Verpflichtungen für beide Seiten und die Benutzung bestimmter Gegenstände verbunden. Nach tieferem Verständnis der Lehren folgen dann unter Umständen andere Einweihungen.

Ablauf der Einweihung

Der Schüler soll verschiedene Gurus genau prüfen und den Guru auswählen, der ihm am besten gefällt bzw. dessen Lehre ihm als die erscheint, die ihn am meisten anspricht.
Dann versucht er durch Geschenke und anderes dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Wenn der Guru schließlich den Schüler evtl. aufgrund seiner persönlichen Eignung annimmt, folgt die Einweihung.

Zuerst wird Tag, Stunde, Mantra und Ishta-Devata vom Guru aufgrund verschiedener Faktoren bestimmt. Dabei sind auch Traumvorzeichen und andere Orakel zu berücksichtigen
In der Regel soll sich der Schüler genau auf die Einweihung vorbereiten, z.B. vorher 12 Stunden fasten.
Die Einweihung findet im Hause des Guru statt, oder an ganz bestimmten festgelegten Orten.
Der Guru ruft zuerst die eigene Ishta-Devata an, dann weist er den Schüler in die Art des Kultes ein, die Einleitungsrituale, evtl. in Pranayamas und spezifische Meditationen.
Zu guter Letzt flüstert er das Einweihungs-Mantra in das Ohr des Schülers und lässt ihn es wiederholen.
Dieses Mantra ist geheim zu halten und darf erst weitergegeben werden, wenn der Schüler selbst ein Guru geworden ist
Zum Abschluss der Zeremonie folgen jetzt die Opfergaben des Schülers an den Guru sowie eventuelle Unterwerfungsriten.
Ein solcher geweihter Schüler gehört zur Familie (kula) des Meisters, der nun verantwortlich ist für die innere spirituelle Entwicklung des Schülers.
 
Diese Beschreibung ist dem Buch: "Die Tantra-Tradition" von Agehananda Bhrati entommen.

Manchmal wird man von Shiva persönlich eingeweiht. Es gibt also auch Siddhas ohne weltlichen Guru, die von "Shiva persönlich" eingewiht wurden. Dies gilt aber als außerordentlich selten.
Zur buddhistischen Tantra-Einweihung, die es in unseren breiten heutzutage häufiger gibt, habe ich hier einiges geschrieben.