Die wichtigsten Tantra-Schriften

Die Schriften der tantrischen Tradition enthalten meditative und experimentelle Praktiken zur Befreiung des Geistes, der Energieumwandlung und dem Erreichen übernatürlicher Fähigkeiten. Sie stellen auch mehr oder weniger esoterische und geheime Rituale vor.
Diese Texte, die von den Tantrikern als Offenbarungen angesehen werden, bilden zusammen mit den Kommentaren der tantrischen Meister die Grundlage des traditionellen Tantra.

Eine Reihe hinduistischer und buddhistischer Tantras sind mittlerweile in westliche Sprachen übersetzt worden, meist ins Englische. Die meisten sind allerdings nach wie vor nur auf Sanskrit, Tibetisch, Chinesisch oder Japanisch erhältlich.
Verwirrenderweise haben einige der Schriften das Wort "Tantra" nicht im Titel, sind aber dennoch tantrischer Herkunft. Dann gibt es wiederum hinduistische Schriften, die Tantra  - im Sinne von "Abhandlung" -  genannt werden, sich aber nicht mit tantrischem Inhalt beschäftigen.

Die typischen Tantra-Schriften kann man idealerweise in vier Abschnitte einteilen. Ein Teil beschäftigt sich mit Kosmologie und Metaphysik, der zweite mit Meditationen und Praktiken zur Erwecken von Energien, eine dritter mit der angemessenen Gottesverehrung und Ritualen, und, meist im hinteren Teil, ein vierter mit Leitlinien für das Leben des fortgeschrittenen Schülers gemäß Neigung und Temperament. In den buddhistischen Schriften wird die Kosmologie weniger betont, weil es weniger im Interesse der buddhistischen Philosophie liegt.

Nach Hubert Pfau befassen sich die tantrischen Schriften mit  
1. Entwicklung des Kosmos,
2. Bedeutung des Körpers für die Befreiung,
3. Einweihung
4. Verehrung bestimmter Gottheiten
5. erotischen und abstoßenden Praktiken (symbolisch oder real zu vollziehen)
6. Mantras zur Unterstützungen der spirituellen Ziele
7. verschiedenen Yoga-Methoden

Agehananda Bharati hat eine linguistische Statistik der klassischen Tantra-Schriften erstellt. Keineswegs sind dies, wie sich manch ein Europäer vorstellt, hauptsächlich Anleitungen zu einem besseren Liebesleben, sondern überraschenderweise geht es hauptsächlich um die richtige Anwendung von Mantras im Kontext von Übung und Ritual.

Mantra-Anweisungen: 60%
Mandala-Anweisungen : 10%
Gottheitsmeditationen: 10%
Vorbereitung von rituellen Zutaten: 5%
Amulette und Zaubermittel: 3%
Ritualbeschreibung, auch sexuelles: 7%
Rest sind stereotype Wiederholungen sowie Verhaltensregeln.
Zusammenfassend kommen einem Tantras vor wie spezielle Zauberbreviere, die auf eine Entschlüsselung warten.

Sandhabhasa, die verborgene Sprache
Wer als Uneingeweihter einen ursprünglichen Tantra-Text in die Hand bekommt, wird, wenn überhaupt, nur wenig verstehen. Die Texte sind esoterisch, symbolisch, mehrdeutig, voller Anspielungen und setzen ein Vorwissen voraus.

So kann es zu solchen Anweisungen (aus einem Kommentar zum Mahanirvana-Tantra) kommen: „Wer sein Glied in den Schoß der Mutter einführt, die Brüste seiner Schwester presst, seinen Fuß auf den Kopf seines Gurus setzt, der wird nicht mehr wiedergeboren“, was bedeutet: wer sein betrachtendes Denken auf das Muladhara-Chakra richtet und die Energie zu Herz- und Kehl-Chakra leitet und schließlich das Gehirnzentrum erreicht, der hat den höchsten Geisteszustand verwirklicht.
Daraus wird verständlich, was schon an mehreren Stellen angedeutet wurde: Tantra soll nicht aus Schriften gelernt werden. Um traditionelles Tantra zu praktizieren, braucht es die Einweihung durch Guru, der aufgrund seiner Ausbildung in der Lage ist, die Schriften zu deuten und zu erklären. Er ergänzt das Wissen des Schülers durch die so genannten Mund-zu-Ohr-Unterweisungen, die einfache und klare Instruktionen sind, welche Praxis nun auf welche Weise auszuüben ist.

Die wichtigsten Tantras werden nun hier mit einer Kurzbeschreibung erwähnt.
Es fällt auf, dass die älteren tantrischen Schriften buddhistischer Herkunft sind.
Wir beginnen mit den buddhistischen Tantras mit geschätzter Angabe der Entstehungszeit und fahren dann mit den wichtigen Hindu-Tantra-Schriften fort. In den Kurzbeschreibungen erwähne ich vor allem die Besonderheiten dieser Tantras, manchmal auch ihre Wirkungsgeschichte.
Die Informationen habe zum Teil ich durch eigene Lektüre der übersetzten Schriften, in größerem Maße aber aus dem Internet, über die Seiten der Tantra-Experten Mike Magee, Rufus Camphausen, Helmut Poller oder der Online-Enzyklopädie Wikipedia.

Buddhistische Tantras

Guhyasamaja-Tantra, ca. 400
Diese Schrift ist eine der ältesten überlieferten Tantra-Schriften überhaupt. Übersetzt würde es in etwa „Tantra der verborgenen Vereinigung“ heißen. Der Text beschreibt anfangs in aller Ausführlichkeit das Mandala der Gottheit, es folgen bildliche Meditationsanweisungen, das Mandala von Körper, Rede und Geist sowie verschiedene Diskurse über Buddhanatur, Leere und das Verwandeln seelischer Gifte wie Gier und Hass.

Hevajra-Tantra, ca. 700
Diese Tantra hat das Mandala der gleichnamigen Gottheit im Mittelpunkt. Hevajra ist eine besondere Verkörperung des Leerheitsprinzips. Das Tantra gehört zu den so genannten Mutter-Tantras.
Der Text beginnt damit, die Personen des Tantras und ihre Beziehungen zueinander vorzustellen: Hevajra, Nairatmya, seine Prajna und die anderen Gottheiten dieses Mandalas. Dann werden die zu Meditation und Ritual nötigen Mantras aufgeführt. Weitere Kapitel behandeln die Reinigungen, die Weihungen von Orten, die Weihen bzw. Initiationen, die geheime Sprache, die Opfergaben, das Anfertigen von Bildern, magische Rituale.
Zitate:
"Mit demselben Gift, von dem ein Weniges ein lebendes Wesen töten würde, wird jener, der das Wesen von Gift versteht, indem er dies Gift benutzt, dies Gift vertreiben" 
Das Hevajra-Tantra wird vornehmlich in den Sakya- und Kagyü-Schulen des tibetischen Buddhismus übertragen und praktiziert.

Chandamaharosana-Tantra, ca. 700
Eine weitere wichtige Schrift ist das „Tantra des Grausig-Groß-Schrecklichen“ welches durch seinen stark sexuellen Charakter, die z.T. hohe Drastik der Rituale auffällt, aber besonders frauenverehrend zu sein scheint und Frauen auch als Personen ernst nimmt. Deswegen hegen manche Autoren die Vermutung, dass es weiblichen Ursprungs sein könnte.

Chakrasamvara-Tantra ,ca. 750
Noch wichtiger in den neuen Übertragungslinien ist das Chakrasamvara-Tantra, auch zu der Klasse der Mutter-Tantras gehörend.
Chakrasamvara, oft auch einfach Heruka genannt, ist ein Yidam, der gewöhnlich mit blauer Körperfarbe, vier unterschiedlich farbigen Häuptern und zwölf Armen in geschlechtlicher Vereinigung mit seiner Gefährtin Vajravarahi dargestellt wird. 
Es ist ein relativ kurzer Text von ungefähr siebenhundert Strophen in Sanskrit, der vor allem Mantras und Rituale beschreibt. Nach seiner historischen Entstehung zu urteilen ist das Chakrasamvara-Tantra eng mit der Götterwelt des Shivaismus verbunden. Heute wird dieses Tantra in der Kagyü- und Gelug-Richtung viel praktiziert.

Kalachakra-Tantra, ca. 800 
Dieses Tantra wurde spät übertragen und gelangte wahrscheinlich im Jahre 1027, das Jahr 1 der Kalachakra-Zeitrechnung, nach Tibet. Die Schrift ist wesentlich umfangreicher als die früheren Tantras, und es beschäftigt sich mit Astronomie, Astrologie, Zeitrechnung, Kriegskunst und Politik. Es wird von manchen zu den Mutter-Tantras, von anderen zu den non-dualen Tantras gezählt.
Die Übertragung des Kalachakra-Tantra ist mit einigen Unterschieden in allen großen Schulen des tibetischen Buddhismus zu finden. Hauptsächlich wird Kalachakra aber von der Kagyü-, Sakya- und Gelug-Schule gelehrt, deutlich seltener in der Nyingma-Tradition. Es gibt mit der Schule der Jonangpa auch eine tibetische Tradition, die sich einzig und alleine auf die Übertragung und Praxis des Kalachakra-Tantra spezialisiert hat.
Einen wichtigen Teil des Tantras macht der Mythos von Shambala aus, einem ursprünglich reinen Land, wobei nicht völlig klar wird, ob es allegorisch oder örtlich zu verstehen ist. Kalachakra trifft auch prophetische Voraussagen, deren Inhalt kriegerische Auseinandersetzungen darstellen.
Durch die großen Einweihungen, die der Dalai-Lama, das Oberhaupt der Tibeter, im Osten wie im Westen erteilt hat, wurde das Kalachakra-Tantra stärker ins Zentrum der westlichen Öffentlichkeit gerückt als alle anderen Praktiken dieser Art. Vereinzelt wurde auch massive Kritik an dieser Praxis vorgetragen, dass damit der Aufbau einer weltweiten „Buddho-Kratie“ geplant sei.

Hinduistische Tantras

Malinivijaya,ca. 900
Dieses Werk bildet die Basis von Abhinavaguptas Tantraloka und ist somit eine wichtige Grundlage des kaschmirischen Shivaismus. 
Es beschäftigt sich mit der Offenbarung von Mantras und nennt die Namen der anzubetenden Göttinnen. Es beschreibt ihre Meditationen, ihre Gestalt sowie die Mantras und Ritaule, die zu ihnen gehören. Ferner behandelt es die Elemente und ihren Sitz im Körper, die tägliche Praxis, die Initiation.
In den späteren Kapiteln werden detaillierte Meditationen und Yoga-Techniken  vorgestellt sowie erotische Gruppenrituale beschrieben.

Kubjikamata oder Kubjika Tantra, ca. 900
Dieser aus siebzehn Kapiteln bestehende Text ist von Kaula-Herkunft. Es ist eine der Schriften, die die Diskussion entfacht hat, ob Tantra durch Techniken aus dem chinesischen Taoismus beeinflusst wurde oder nicht. Kapitel 16 beschreibt eine Jungfrauen-Verehrung, die aus Mahachina stammen soll, dem indischen Namen für das alte China.
Der Text beschäftigt sich ansonsten viel mit der Verehrung und Anbetung von Mädchen und Jungfrauen: „Mädchen zwischen 10 und 16 Jahren müssen als Göttin angesehen werden“. Im 7. Kapitel wird den Kula-Frauen viel Aufmerksamkeit gegeben, und der Text betont, dass alle Frauen, auch Prostituierte, gegrüßt und in Ehren gehalten werden müssen.
Ein Typus des Rituals wird wie folgt beschrieben: man soll seine eigene Frau, die initiiert ist, im betrunkenen Zustand verehren, indem man sie als Göttin ansieht. Der Ehemann soll die Mantras 108mal sprechen und dabei ihr Herz mit seinem Herzen berühren, ihre Yoni mit seinem Lingam und ihr Gesicht mit seinem Gesicht.

Kalika Purana, ca. 1150
Ein Werk der Shaktas aus Bengalen oder Assam. Dieses System betrachtet die Göttin als hauptsächliche Gottheit und Quelle universeller Energie. In 98 Kapiteln beschreibt der Text hauptsächlich die richtige Verehrung der Göttin Kali oder Kalika, und speziell der Verehrung der Kamakhya, eines erotischen Aspekts der Großen Mahamaya.
Dieser Text enthält auch Listen von Pithas, also tantrischen Wallfahrtsorten.
In der Kalika Purana wird der Mythos beschrieben, wie die Göttin Durga im Kampf gegen zwei Dämonen in unterlegener Situation aus ihrem eigenen dritten Augen die zornvolle Form der Kali erschafft, die die Dämonen schließlich bezwingen kann.
In Hindu-Kreisen ist die Kalika-Purana berüchtigt wegen ihrer Ausführungen zum Menschenopfer, ein alter Ritus, der wahrscheinlich in einigen Anhängerkreisen wirklich praktiziert wurde. Der wichtigste Zweck der Schrift scheint jedoch der Versuch gewesen zu sein, die Lücke zwischen orthodoxer Praxis und den „verbotenen“ tantrischen Methoden wie Fleisch, Drogen und Geschlechtsverkehr zu schließen.

Mahachinachara-Sara Tantra, ca. 1200
Ein eher kurzes Tantra mit sechs Kapiteln , das die vielen Reisen und spirituellen Erfahrungen eines Mannes namens Vasistha beschreibt. Diese Werk scheint orthodoxe buddhistische Lehren mit taoistischen und hindu-tantrischen verbinden zu wollen.
Nachdem er die Göttin Tara angebetet und die heilige Stätte der Kamakhya in Assam besucht hat, geht Vasistha schließlich nach China, wo er dem Buddha begegnet.
Im zweiten Kapitel findet er den Buddha in einem erotischen Setting, umgeben von vielen Damen und völlig betrunken. Er erfährt von ihm, dass Chinachara ein völlig legitimer Weg ist, die Göttin zu verehren. Der Buddha erklärt ihm, dass die Verehrung von Frauen das Beste ist, was er tun kann.
In Kapitel drei erklärt der Text, dass Sexualpraxis, Maithuna, dem Weintrinken überlegen ist, und dass beide nur im Ritual und nicht außerhalb praktiziert werden sollen. In diesem Text werden auch die „Neun Typen freier Frauen“ beschrieben, mit denen man bevorzugt praktizieren soll: (dazu wird aber erwähnt, dass man mit allen Frauen jedes Alters und jeder Kaste praktizieren darf)
• Schauspielerin
• Haarschneiderin
• Brahmanin
• Kuhhirtin
• Totenschädel-Asketin
• niederkastige (Shudra-) Frau
• Prostituierte
• Wäscherin
• Girlandenmacherin
Der Text preist die Yoni-Pitha in Assam, das an der Grenze zu China, Tibet und Bhutan liegt, als den Ort, der sich am besten für die Praxis eignet, an. Man kann also vermuten, dass sich dort chinesische Taoisten, tibetische Buddhisten und Hindu-Tantriker zur Göttinnen-Verehrung trafen.

Kulachudamani-Tantra, ca. 1300
Das Kulachudamani Tantra ist ein Nigama, das heißt, dass die Devi die Fragen ihres Gemahls Shiva beantwortet. In diesem Tantra ist die Kult-Gottheit Mahishamardini, eine Durga ähnliche Gottheit.
In sieben kurzen Kapiteln erklärt die Devi in teilweise blumiger Sprache die Einzelheiten ihrer Verehrung.
Die unheimliche Seite der Kaula- und Kali-Rituale wird jedoch auch betont, z.B. Tieropfer, die Herstellung magischer Essenzen sowie ein mysteriöser Prozess, in dem der tantrika seinen Körper in der Nacht verlässt, um sich mit Göttinnen zu vereinigen. Zum Teil ist der text auch sehr verschlüsselt und verwirrend geschrieben.
Die Siddhis spielen in diesem text eine wichtige Rolle. Zu den tantrischen Hauptriten des Besänftigens, Unterjochens, Lähmens, Verhinderns, Entfernens und Tötens kommen noch folgende Kräfte dazu: das Wiedererwecken einer Leiche, das Gehen durch Wände, die Unverletzbarkeit durch ein Schwert, die Kraft des Fliegens und magische Sandalen ähnlich den Siebenmeilenstiefeln.

Rudrayamala, ca. 1300
Das Rudrayamala ist eine Quelle für viele andere Tantra-Schriften, scheint aber im Original verloren gegangen zu sein.
Das erhaltene Fragment enthält viele Informationen über die Identität der Göttin mit der Kundalini-Kraft. Es enthält 66 Kapitel, die in einfacher Sprache dargelegt sind.

Vijnana Bhairava Tantra
Das Vijñana Bhairava Tantra ist ein Kapitel im Rudrayamala und eine der wichtigen Schriften des kaschmirischen Shivaismus.
Der Text lehrt „die Erkenntnis (Vijñana) des Göttlichen (Bhairava, ein Name Shivas, auch das Absolute)“ in 112 Meditationen, die von der Atemkonzentration bis zu alltäglichen oder außergewöhnlichen Erlebnissen reichen und alle Dimensionen der menschlichen und spirituellen Erfahrung einschließen.

Kularnava-Tantra, ca. 1300
Das Kularnava-Tantra gilt unter den Kaulas als wichtigstes Werk. Kularnava heißt Kula-Ozean. Jedes Kapitel heißt ullasa oder Wonne, was sich auf den Kaula-Nektar bezieht.
Das dritte Kapitel behandelt die Schönheit des “nördlichen Pfades” des Shivaismus und sein Mantra. Diese Form von Shiva ist als Ardhanarishvara, die Shiva und Shakti in einer Gestalt vereint, bekannt. Sie steht unter anderem für die Einheit des Ein- und Ausatmens.
Einige Kapitel behandeln die Meditation auf Ardhanarishvara.
Interessant ist noch, das alle Mantras im Kularnava Tantra mit den Buchstaben Ha und Sa gebildet werden. Wichitg sind die Bijas Ham, Sam, Hsaum und Shaum.

Yogini Tantra, ca. 1350
Der Text handelt hauptsächlich über die Verehrung von Kali und Kamakhya. Er beschreibt das Yoni-Mandala in der Yoni-Pitha und andere heilige Stätten, in denen die Göttin verhert wird. Der Text hat verschiedene Empfehlungen über die fünf Makaras und wer die Rituale mit wem machen soll, so wird z.B. der Inzest zwischen Sohn und Mutter verboten.
Wie andere Kaula-Texte ermutigt das Yogini-Tantra das Brechen der moralischen Normen des Hinduismus und lässt keine Kastenschranken gelten. Frauen haben hier einen besonders hohen Status und dürfen sexuelle Beziehungen haben mit wem sie wünschen.
Der Text enthält außerdem eine Reihe von tantrischen Visualisationen.

Yoni-Tantra, ca. 1650
Das Yoni-Tantra ist ein Text aus Bengalen, das sich hauptsächlich mit der Yoni-Puja, der geheimen Verehrung der Vulva, beschäftigt.
Diesem Text zufolge ist Maithuna, der Geschlechtsverkehr, unabdingbarer Teil des Tantra-Rituals und soll mit Frauen von 12 bis 60 Jahren vollzogen werden, verheiratet oder nicht, außer jenen, die vor der Menarche stehen. Der Text beschreibt 9 Arten von Frauen, mit denen man bevorzugt Rituale feiern soll, und verbietet den Mutter-Sohn-Inzest.
Dieses Tantra schreibt dem Sadhaka wenig vor und überlässt ihm die Wahl von Partnerin, Ort und Zeitpunkt des Rituals. Er muss jedoch beachten, dass er sich niemals über eine Yoni abfällig äußern darf, alle Frauen gut behandeln muss und niemals aggressiv zu ihnen sein darf.
Die Yoni wird ausführlich verehrt, wobei man sie in zehn Zonen einteilt, die den zehn Mahavidyas, weiblichen Gottheiten, entsprechen.
Hier ein Zitat aus dem Yoni-Tantra:
„Meditiere darüber, in das Yoni-Chakra eingesogen zu werden,
mit Yoni auf der Zunge,
Yoni im Geist,
Yoni in den Ohren
und Yoni in der Augen
Alles Sadhana ist wertlos ohne die Yoni.“

Wer bei seinen Gebeten immer die Worte „Yoni Yoni“ ausspricht
Dem soll die Yoni ihre Gunst gewähren
und ihm Freude und Befreiung bringen.

Mahanirvana-Tantra ca. 1700
Das Mahanirvana-Tantra scheint eines der jüngsten Tantras zu sein und ist möglicherweise erst im 18. Jh. entstanden. Es stammt aus Bengalen und gehört zu den Schriften der Shakta. Es ist stark von buddhistischem Gedankengut inspiriert.
Es ist eines der ersten Tantras, die von Woudroffe ins Englische übersetzt wurden und ist dadurch im Westen eines der bekanntesten Tantras.
Es ist ein weiterer Schritt in die Richtung, die tantrischen Lehren mit dem orthodoxen Hinduismus zu versöhnen. So verbietet es z.B. rituelle Sexualität mit einem Partner, mit dem man nicht verheiratet ist.
Die Sprache ist im Vergleich zu anderen Tantras relativ klar und verständlich.