Tantra-Philosophie

Als nächstes werde ich versuchen, den philosophischen Hintergrund der Tantra-Schriften etwas aufzuhellen. Dieses Unterfangen ist recht anspruchsvoll, weil zum einen die Tantras so eng mit der sonstigen indischen Geisteswelt verbunden sind, dass man nicht umhin kommt, sich damit zu beschäftigen, zum andern die unterschiedlichen Tantra-Systeme zum Teil erheblich voneinander abweichen.
Wer sich weniger für abstrakte Philosophie interessiert, sollte unter Umständen dieses Kapitel einfach überschlagen.

Der Grundantrieb der indischen Spiritualität, und das schließt Buddhismus und Hinduismus ein, ist, aus einem vergänglichen, unbeständigen und oft leid- und angstvollen Daseinszustand in ein befreites, zeitloses Sein zu gelangen.

In den großen dualistischen Systemen Indien wie dem Raja-Yoga des Patanjali oder dem Samkhya ist das Ziel des geistigen Strebens, der materiellen Welt, die keine wirkliche Realität besitzt, zu entkommen und in ein rein geistiges Reich zu gelangen, das unsere wahre Essenz darstellt.
Die einflussreichste indische Schule des Vedanta hingegen, die das Große Ganze Brahman und dessen Anwesenheit in uns Atman nennt, ist einer nicht-dualen Auffassung: die Materie ist nicht getrennt von Brahman.

Im frühen Buddhismus wird die relative Ebene des Samsara und die absolute des Nirvana unterschieden, zwei getrennte Welten, zwischen denen kein Zusammenhang besteht. Durch einen existentiellen Sprung ist es möglich, aus dem Kreislauf von Karma und Wiedergeburt, wie sie dem Samsara zu eigen ist, auf die Ebene des Nirvana zu gelangen und da die Befreiung zu finden.
Im späteren Mahayana-Buddhismus wird die Identität der beiden Welten postuliert, beiden fehlt die Essenz, bloß ist die Welt der Erscheinungen von relativer Existenz. Hier taucht zum ersten Mal die Gleichung Samsara= nirvana auf, die Identität der materiellen und der geistigen Welt. Es kommt nur auf die Sichtweise des Betrachters an. Wer den Weg realisiert hat, wird keinen Unterschied mehr erkennen. Diese Formel ist bedeutend und entscheidend auch für die ganze tantrische Tradition.
Erleuchtung heißt nicht mehr, die Welt aufzugeben und seinen Lebensimpulse abzutöten, sondern diese niederen Realitäten in einer höheren Schau zu integrieren und aufgehen zu lassen.

Mahayana-Buddhismus und Vedanta hatten einen tiefen Einfluss auf die Tantra-Philosophie. Im Hindu-Tantra heißt es nun: die Welt ist nicht irreal, sondern das „Gewand Gottes“. Die Welt ist Erscheinung des Wirklichen und somit real. Aber die Dinge sind nicht autonom, wie sie scheinen, sondern in einen tieferen Zusammenhang eingewoben.  Das Universum ist Realität, die durch unseren Geist zersplittert erscheint. Der Weg des Tantra führt zurück zur Einheit. 
Auch der Mensch ist göttlich, nicht nur eine Manifestation, sondern die göttliche Macht selbst.

Tantra ist eine große Synthese zwischen verschiedenen indischen Denkschulen geworden. Es vereinigt den Monismus des Advaita mit dem Dualismus des Samkhya. Es hat eine vermittelnde Stellung zwischen dem Jnana-Weg der Erkenntnnis und dem emotionalen Verehrungsweg des Bhakti, und integriert das männlich-transzendente Prinzip mit dem weiblichen Pol von Materie und Energie.
So kann man Tantra als eine eklektische Strömung auffassen mit einer starken religiösen und rituellen Tendenz. Jedoch ist das tantrische Universum so komplex, dass es auch Platz hatte für die Strömung des Sahajayana, die wiederum jedem Ritual skeptisch gegenüber stand.

Die Inder fassen die Welt nicht als Kampf zwischen gut und böse, zwischen Tugend und Sünde auf, sondern als Entscheidung zwischen dem hellen Bewusstsein oder der Blendkraft der Maya, der Täuschung des Unterbewusstseins. Objektiv ist Maya die Kraft, die das Bewusstsein verdunkelt, bei tieferem Hinschauen entspringt auch sie der Macht des Bewusstseins.
Im Shivaismus wird das so geschildert: tritt an die Stelle der Intuition aufgrund der Maya ein Zustand des Intellekts, treten die Samkochas auf, die Selbstbegrenzungen Gottes, und als Folge davon die von uns erfahrbare beschränkte Welt. Die Seele, die quasi einschläft, glaubt begrenztes Bewusstsein zu sein, sich in Zeit und Raum als von anderen getrenntes Individuum aufzuhalten.
In der Lehre des Vedanta sind es die fünf Panzer oder Körperhüllen, die uns eingrenzen und reduzieren, in einem Prozess der Befreiung muss sich der Strebende aus den Fängen von Maya von innen nach außen durcharbeiten.
Das spirituelle indische Streben ist, sich „heldenhaft“ aus dem Netz der Täuschung zu befreien. Es wird nicht auf Gnade von außen gehofft, sondern man wird aktiv tätig und Kämpft sich gewissermaßen frei. Wenn Götter um Beistand gebeten werden, so nur, um die eigenen Bemühungen zu unterstützen, zu stärken oder zu segnen. Daher gibt es in den meisten indischen Kulten keine „Erlösergestalt“, die von außen kommt, sondern die Notwendigkeit von Erkenntnis der wahren Natur, von Übung und Initiation. Gott muss in diesem langsamen mühevollen Aufstieg im Menschen entwickelt, wachgerufen werden.

Das absolute Bewusstsein, das es zu erreichen gilt, wird immer mit Licht assoziiert. In der Meditation kann man es als inneres, farbloses Leuchten erfahren. Im Buddhismus wird dieses Licht offenbar, wenn nach dem Tod alles andere sich aufgelöst hat: gelingt es da, dieses Licht als absolutes Bewusstsein zu erkennen, so ist der Kreislauf der Wiedergeburten beendet, andernfalls geht er weiter fort.

Polaritätssymbolik im Tantra

Das Oberste Sein ist eine Nicht-Dualität, die ist aber nicht mitteilbar und fassbar ist. Brahman das Absolute, die formlose Einheit, in shivaitischen Schulen auch Paramashiva genannt, differenziert sich in einen Bewusstseinsaspekt, Shiva genannt, und einen Energieaspekt, und Shakti.

Tantra hat die Pole männlich-weiblich gewählt, um die Polarität zu erläutern, die alle Bewusstseinsebenen durchdringt.  Dies ist eine Art Zweiheit und Nicht-Zweiheit zugleich, bezeichnet das Bewusstsein einerseits und den Gegenstand der Erkenntnis andererseits. Im Erleben des Absoluten verschmelzen diese Pole wieder.

Die Polarität Shiva-Shakti ist stark von der alten indischen Lehre des Samkhya beeinflusst. Samkhya besagt, das sich das Absolute in einen geistigen und einen materiellen aspekt aufteilt. Der geistige ist männlicher Natur und wird Purusha genannt, der stofflich-energetische ist weiblicher Natur und heißt Prakriti.
Die Gottheiten Shiva und Shakti entsprechen genau diesen Prinzipien. Obwohl unterscheidbar in ihren Qualitäten, sind sie untrennbar als zwei Aspekte des Einen.

In einer Kaskade weiterer Differenzierungen erscheint Maya, die Täuschung, unter deren „Zauber“ wir Menschen stehen und an ein Gaukelbild glauben und dem verhaftet sind.

In Wahrheit ist jedoch die ganze Welt der Sinneserfahrung Shiva-Shakti, Purusha und Prakriti. Ziel des Tantra ist, diese integrale Ganzheit durch Versenkung zu verwirklichen; dies setzt große Freude frei, weil alles in der Welt sich freut, zum Ursprung zurück zu kehren.

Shiva und Shakti werden in der tantrischen Ikonographie als verschlungenes Paar dargestellt, als zwei Seiten eines Wesens, die nicht zu trennen sind. Die Vereinigung von Shiva und Shakti steht für die Einheit und Ungeschiedenheit der Dinge, was die ganze Schöpfung durchdringt. Sexualität ist dafür eine viel benutzte Symbolik.

Der Göttinnen-Kult der Tantras entstand in Indien aus einer Vermengung der Samkhya-Philosophie (Purusha und Prakriti) und dem wiedererstarkten älteren einheimischen Tendenzen der Frauen- und Göttinenenverehrung.
Die Shakti verkörpert die ursprüngliche Energie. Die tantrische Sadhana ist auf die Erweckung und Erhöhung der Energie ausgerichtet .
Ziel der Sadhana ist die Aktivierung der Kundalini, die nichts anderes darstellt als das Wirken der kosmischen Shakti in unserem Körper.

Im buddhistischen Tantra sind die Polaritäten anders verteilt: das männliche Prinzip (upaya) ist aktiv, das weibliche (prajna) passiv. Es scheint also willkürlich zu sein, welchem Geschlecht man welchen Pol zuordnet, meint der in Fachkreisen hoch geschätzte Agehananda Bharati, und dass dies an regionalen oder historischen Besonderheiten liegen können.
Beide Schulen betonen jedoch das Prinzip der Dualität in der Nicht-Dualität und sehen in der Vereinigung von beiden die Vollkommenheit.
Im tantrischen Buddhismus gibt es den Begriff der Shakti nicht. Die Idee eines dynamischen und vitalen Weiblichen hat aber durch die Figuren der Dakinis auch hier einen Raum erhalten. Es gibt hier zwei Typen von Göttinnen, dynamische Feuergöttinnen wie z.B. Vajravarahi, aber auch Göttinnen, die die reine statische Yum verkörpern und eindeutig dem Weisheitsaspekt zuzuordnen sind, wie Prajnaparamita.

Philosophie des Kashmir-Shivaismus

Die differenzierteste philosophische Schule des Hindu-Tantra ist die kashmirische Trika- Schule.
Das höchste Prinzip gemäß Trika ist Paramashiva, es verkörpert das allem zugrunde liegende, durchdringende und transzendente Sein. Seine schaffende Kraft, untrennbar von ihm, manifestiert sich in Stufen des Universums.
Shakti erwacht- das Universum entsteht. Shakti schläft ein – und das Universum verschwindet.
Aus ihrer Vibration, Spanda genannt, manifestiert sich das Sein in 36 sogenannten Tattvas.

Im kashmirisch-shivaitischen Tantra besitzt jedes Geschöpf die absolute Wesentlichkeit, ihm ist daher auch nichts hinzuzufügen oder wegzunehmen. Jenseits von Moral und Exerzitien sofort in der Gnade des Soseins aufzugehen, wird als höchster Weg (oder Nicht-Weg, anupaya), angesehen, der allerdings sehr selten ist und nur für sehr wenige Menschen beschreitbar. Die anderen müssen sich einem yogischen Stufenweg widmen.
Auf dem Stufenweg des Trika versucht der Schüler, diese abfallende Kaskade der Tattvas wieder hochzuschreiten, indem er mit seinem Bewusstsein alles immer umfassender wahrnimmt, ohne die unteren Stufen zu verachten oder geringzuschätzen.
Der Meister, der Guru oder die Gurvi, wird nun versuchen, dem Schüler geeignete Methoden zu vermitteln, die zu seiner/ihrer Befreiung führen können.
Die Verwirklichung der letzten vier Tattvas sind mit meditativen Mitteln nicht mehr möglich; es bedarf hier der Gnade Shivas oder seiner Shakti.

Die Bedeutung des Weiblichen im Tantra

Tantra ist eine religiöse Wiederentdeckung des Geheimnisses der Frau: jede Frau wird zu einer Inkarnation der Shakti.

Die Haltung eines Mannes gegenüber der Frau spiegelt seine Haltung zum Leben wider . Deshalb sollte jeder Mann drauf achten, das Shakti-Prinzip in seiner Partnerin und in allen Frauen, auch in sich selbst zu respektieren und zu ehren. Entsprechend sollte auch die Frau dieses Prinzip in sich entdecken und entzünden und versuchen, die Göttin zu verkörpern. Die Verehrung des Weiblichen ist ein zentrales Element des hinduistischen, mit bestimmten Einschränkungen auch des buddhistischen Tantra.
Im Hindu-Tantra transzendiert das weibliche Prinzip das männliche, obwohl mit ihm verbunden. Shakti ist dadurch mit allen Aspekten des Lebens ausgestattet: erzeugend wie auflösend, sinnlich wie erhaben, gütig bis schrecklich. In tantrischen Schriften wird immer wieder betont, dass jede Frau ist eine Verkörperung der Shakti ist, die man verehren soll und nicht beschimpfen oder schlagen darf. Sie ist kein Sexualobjekt, sondern eine Göttin und bleibt als solche geachtet, unbehelligt und frei. Die Frau gilt als die Initiation des Mannes. Will dieser sich der Frau würdig erweisen, muss erstmal sein Leben auf den Idealen der Weiblichkeit neu aufbauen. Das weibliche Universum als Mann im Inneren zu realisieren, ist Teil des tantrischen Pfades.
Im Kontext der patriarchalen Kultur, in der sich diese Lehre entfalten konnte, ist dies erstmal revolutionär. Diese Passagen scheinen darauf hinzuweisen, dass sich Tantra in der Tat unter dem Einfluss alter matriarchaler Kulte entwickelt hatte, die in den indischen Randregionen überlebt hatten.

Die ständige Betonung der Frauenverehrung sollte uns allerdings nicht die Augen davor verschließen, dass sich der tantrische Weg dennoch in einer patriarchalen Kultur entfaltet hat, in der der größte Teil der religiösen Aktivitäten von Männern geprägt war. Manche Autoren haben sich kritisch mit der Frage beschäftigt, ob Tantra wirklich so frauenverherrlichend war und ist.
Zumindest sind die meisten Tantras aus der männliche Perspektive geschrieben, die tantrischen Sadhanas fast immer für Männer konzipiert. Die weibliche Perspektive wird gar nicht oder nicht stark reduziert wahrgenommen.
Auch das Konzept der Verehrung hat seine Kehrseite, je höher die Verehrung eines Prinzips, umso größer die Verachtung für den real lebenden Menschen.
Die Frau erscheint in weiten Teilen des historischen Tantra als Lusthelferin oder Projektionsfläche für den Mann. Sie wird in den Weg mit einbezogen, scheint aber am Prozess nur sekundär teilzuhaben. Sadhanas speziell für die Frau sind nicht oder nur rudimentär überliefert.

In der modernen Tantra-Rezeption gibt es eine Kontroverse über die Bedeutung der Frau im buddhistischen Tantra, an der sich die Geister scheiden. Während Miranda Shaw versucht nachzuweisen, dass Tantra eine gynozentrischer Weg ist, in der die Frauenverehrung zentral steht, sind andere Autoren der Meinung, dass die Frau nur eine Randerscheinung in der buddhistischen Praxis ist. Andere Autorinnen, z.B. June Campbell, betonen, dass der Tantra-Pfad sexuellem Missbrauch Tür und Tor öffnet, und warnen vor den Gefahren. Die Religionskritiker Victor und Victoria Trimondi versuchen in einer Studie sogar nachzuweisen, dass der zentrale Kult des buddhistischen Tantra eine Machtaneignung des Priesters ist, der der Frau durch rituellen Verkehr ihre Essenz entzieht, die er benötigt, um zu einem vollkommenen, androgyner Magier zu werden, und dass die zentralen Kulte des buddhistischen Tantra um ein symbolisches Frauenopfer kreisen.

Von den großen Gurus und Meistern, die uns namentlich bekannt sind, sind die Frauen in der deutlichen Minderheit, z.B. sind von den 84 Mahasiddhas des tantrischen Buddhismus nur vier davon Frauen. Immerhin ist das schon mehr Rechte und Beteiligung, als Frauen in anderen Traditionen erwarten konnten.

Lehre vom Kali-Yuga

Kali-Yuga, auf deutsch Zeitalter des Streites, ist die Bezeichnung für das letzte von vier Zeitaltern, den so genannten Yugas in der hinduistischen Kosmologie. Es gilt als das Zeitalter des Verfalls und Verderbens. Die weiteren sind Satya Yuga, Treta Yuga and Dvapara Yuga.
Kali bezeichnet beim Würfeln die Verliererseite mit einem Punkt und hat nichts, wie oft angenommen, mit der Göttin Kali zu tun, was in deutsch und englisch gleich geschrieben wird, in Sanskrit aber verschieden.
Die meisten Hindus gehen davon aus, dass wir jetzt im Kali-Yuga leben. Über die Zeitspannen der Zeitalter gehen die Meinungen ziemlich auseinander.

Der Mensch besitzt nicht mehr die Spontaneität und Kraft und ist eines direkten Zugangs zur Wahrheit nicht mehr fähig. Der klassische Hinduismus empfiehlt die Wiederholung der Namen Gottes als Methode, die für das Kali-Yuga geeignet ist.
Tantra betont eine andere Möglichkeit, nämlich äußerst aktiv zu sein und nichts unversucht zu lassen, um die Befreiung zu erzielen. Der Mensch muss da abgeholt werden, wo er steht, von den Quellen seines Lebens ausgehen – daher der lebendige Ritus im Fleisch mit „Herz“ und Sexualität.

Wo ohnehin kein Unterschied zwischen der relativen und absoluten Welt besteht, so die Tantriker, können auch unkonventionelle Wege beschritten werden, um das Ziel zu erreichen. So kennt Tantra eine ganze Reihe von Methoden, die bis dahin dem spirituellen Indien ziemlich fremd waren, z.B. die starke Verehrung des Weiblichen, die Betonung des physischen Körpers und die rituellen Sexualität.
Die tantrische Praxis wird so als Selbstbehauptung im finsteren Zeitalter rechtfertigt.
Einige Autoren wie Bharati stehen der Doktrin vom Kali-Yuga skeptisch gegenüber und halten sie für eine spätere Entwicklung, als die Tantriker immer mehr unter Druck kamen, ihre linkshändigen Praktiken zu rechtfertigen, weil damit die Überlegenheit vedischer, nicht-tantrischer Praktiken zwar als unzeitgemäß relativiert, aber dennoch grundsätzlich anerkannt wird.

Zusammenfassung dieses Kapitels:
Das hinduistische und das buddhistische Tantra unterscheiden sich in ihrer Philosophie mehr als in der Praxis. Im Hindu-Tantra ist das Universum Realität, die durch unseren Geist zersplittert erscheint. Der Weg des Tantra führt zurück zur Einheit.
Im Buddhismus sind die Dinge „leer“ und bedingt entstanden, somit eigentlich substanzlos, jedoch erscheinen sie in der relativen Welt als real.
Die Inder fassen die Welt nicht als Kampf zwischen gut und böse, zwischen Tugend und Sünde auf, sondern als Entscheidung zwischen dem hellen Bewusstsein oder der Blendkraft der Maya, der Täuschung des Unterbewusstseins. Objektiv ist Maya die Kraft, die das Bewusstsein verdunkelt, bei tieferem Hinschauen entspringt auch sie der Macht des Bewusstseins. Das tantrische Streben ist, sich „heldenhaft“ aus dem Netz der Täuschung zu befreien. Es wird nicht auf Gnade von außen gehofft, sondern man wird aktiv tätig und Kämpft sich gewissermaßen frei. Gott muss in diesem langsamen mühevollen Aufstieg im Menschen entwickelt, wachgerufen werden.
Die ursprüngliche Einheit zersplittert in eine scheinbare Dualität eines aktiven und eines passiven Pols. Im Hindu-Tantra ist der Bewusstseinspol männlich (Shiva) und der Energiepol weiblich (Shakti). In einer Serie weiterer Differenzierungen und Profanisierungen erscheint schließlich die Welt, wie sie sich uns darstellt. Der tantrische Yogi ist nun bestrebt, den Weg wieder zurückzugehen zur Quelle. Das ist ein Weg, den man auch als Integration oder Individuation betrachten kann.
Das Weibliche wird im Tantra hoch geschätzt und geehrt. Ob das auch real ist oder nur prinzipiell, daran scheiden sich die Geister.
Tantra ist auch als Weg aufzufassen, der die Lücke zwischen Eros und Religion kitten kann.