Buddhistisches Tantra

Der tantrische Buddhismus, auch Vajrayana (Diamantenfahrzeug) oder Mantra-Fahrzeug genannt, gilt als dritte und jüngste Richtung des Buddhismus in Indien. 
Die Methoden unterscheiden sich von früheren Formen des Buddhismus. Sie sind zum Teil dem Hindu-Tantra so ähnlich, dass man von einer gemeinsamen Grundlage ausgehen muss.
Ich habe die Geschichte der Zusammenhänge an anderer Stelle ausführlich erörtert.

Während der Hindu-Tantra-Weg in Indien immer schon eine Geheimlehre war, zur Zeit nur noch wenigen Eingeweihten zugänglich ist und im Westen so gut wie gar nicht gelehrt wird, hat sich der buddhistische Tantra-Weg in der Himalaya-Region erhalten und entwickelt und ist unter dem Schutz einer monastischen Tradition die Essenz einer Staatsreligion in Tibet, Bhutan und Ladakh geworden. Auch im Westen ist dieser Pfad des Tantra Menschen zugänglich, wobei der Zugang zu den Lehren die Überwindung so einiger Hürden erfordert.

Buddhistische Philosophie

Der Buddhismus sieht sich als Lehre der Befreiung vom Leidens ist. Letztlich, so die Worte des Buddha, ist es der Lebensdurst, der die Ursache des Leidens darstellt. Dieser geht auf die falsche Vorstellung zurück, die Dinge seien real und existierten aus sich heraus. Das sollte durch die Sichtweise ausgetauscht werden, dass alle Dinge und Phänomene bedingt entstanden und somit vergänglich sind.

Die Idee des ursprünglichen Hinayana-Pfades ist, dass das Verlangen der Sinne nach angenehmen Reizen die letztliche Ursache für Frustration und Leiden ist, daher soll der Adept versuchen, seine Sinne nach und nach für angenehme Reize zu desensibilisieren, seinen Geist vor der Aufregung vor Verlangen zu schützen und somit mehr und mehr in Ruhe und Gleichmut zu weilen.
Im frühen Buddhismus ist es daher üblich gewesen, diesen Durst durch asketische Praxis zu löschen. Aus diesem Grunde stand ein raues, einfaches Leben, das in erster Reihe den Sexualtrieb, aber auch jede Form von Aggression ausmerzen sollte, im Zentrum der buddhistischen Praxis. Auch war der Weg zur Befreiung streng genommen den Mönchen vorbehalten.

Später entwickelte sich der Mahayana-Buddhismus, das Große Fahrzeug, der auch Laien die Befreiung ermöglichen will. Wichtige Unterschiede zum jetzt Hinayana genannten Frühbuddhismus sind eine neue und umfassendere Sicht der Leerheit, eine stärkere Diesseitsorientierung und die Betonung des Aspekts des Mitgefühls mit allen Wesen. Statt des Ideal des Arhat, eines aus dem Kreislauf der Wiedergeburt vollständig Befreiten, gilt im Mahayana das Ideal des Bodhisattva. Dieser verzichtet aus Mitgefühl mit den anderen Wesen auf den letzten Schritt der Befreiung und gelobt, sich immer wieder auf der Erde zu reinkarnieren, bis alle Wesen einst befreit sind.
In einem Teil der Schriften des Mahayana findet sich die Vorstellung, dass allen lebendigen Wesen die Buddhanatur innewohnt. Sie ist demzufolge das, was übrig bleibt, wenn der Geist von allen „Befleckungen“ gereinigt ist. In späten Mahayana-Schriften wird die „Buddha-Natur“ mit einem von allen Prägungen freien Grundbewusstsein (alaya-vijnana) gleichgesetzt.

Die Sichtweise des Vajrayana

Auf dem Sutra-Pfad, unter welchem Begriff wie die Perspektive des Tantra die früheren Lehren des Hinayana und Mahayana zusammenfasst, werden bestimmte Ursachen geschaffen – ethisches Verhalten, Einsicht etc., was den Geist als Folge nach und nach umwandelt. Daher die Bezeichnung Ursachenfahrzeug.
Der Tantra-Weg ist vergleichsweise schnell. Hier wird der Yogi angehalten, sich jetzt schon so zu verhalten, als ob er der erleuchtete Buddha wäre. Deswegen nennt man Vajrayana auch das Ergebnisfahrzeug. Tantra bietet geeignete Methoden, jetzt schon die Vollkommenheit aller Wesen zu erkennen.

Im Vajrayana wurde die Idee entwickelt, dass alle Wesen nicht nur „embryonale Buddhas“ sind, sondern per se schon Buddhas. Es sind gerade die Befleckungen, die oberflächlich und illusionär sind. Es geht hier um eine neue Sichtweise, die revolutionär ist – man muss also nicht mehr Schicht für Schicht abtragen, um zur wahren Natur vorzustoßen, sondern es geht um das Bemühen, alles und jedes als Buddha zu erkennen und diese Sichtweise auch im täglichen Erleben konkret aufrechtzuerhalten. (Peter Gäng) 

Nach den Lehren des Vajrayana-Buddhismus ist unser eigentliches Wesen klar und rein, egal wie verwirrt oder verblendet wir sein mögen. Wie der Himmel von Wolken verdeckt sein kann, bleibt er doch klarer Himmel – zeitweilig verdunkelt, aber nicht zerstört. So ist es mit Gier, Hass und Unwissenheit, sie erzeugen Leiden und können unseren Geist verdunkeln, aber ihm nichts antun. (Lama Yeshe)

Aus dieser Neu-Interpretation der Buddhanatur folgt, dass es nicht mehr darum gehen kann, sich selbst zu überwinden, z.B. durch Askese, Hingabe oder Meditation, sondern alles als ursprünglich rein zu erkennen. Auch die Wurzeln des Unheilsamen wie Gier, Hass und Verblendung erscheinen in diesem Licht wie bestimmte Qualitäten, die z.B. Nähe oder Distanz schaffen können. Vor allem dem Lustverlangen kommt auf dem Weg der Befreiung eine ganz neue Bedeutung zu.
Buddhistisches Tantra folgt im Grunde der Sichtweise des Buddhismus, die auch den nicht-tantrischen buddhistischen Systemen eigen ist, speziell dem Mahayana-Buddhismus mit seinen beiden höchstentwickelten Schulen Madhyamika und Yogachara.
Ein zentraler Unterschied vom tantrischen zum nicht-tantrischen Buddhismus (viraga-dharma) ist in erster Reihe das Einbeziehen von Sexualität (saraga-dharma), aber auch von Untugenden wie Hass und Verblendung in den spirituellen Weg.
Dies besagt jedoch nicht, dass man seinen Trieben und Eingebungen blind folgen soll. Tantra ist ein methodischer Weg zu einer umfassenden, reinen Sicht der Welt als „heiliges Gelände“. (Peter Gäng) 

Mit Hilfe geeigneter spiritueller Übungen kann man dieses grundlegend reine Wesen erfahren. Ein Zustand voller Kraft, Weisheit, Mitgefühl und Geschick ist für jeden erreichbar, wie zahlreiche verwirklichte Meister bewiesen haben.
Tantra ist der Pfad der Umwandlung. Hier folgt man dem Ansatz, die kraftvolle Energie des Verlangens als Ressourcen und Mittel auf dem geistigen Pfad zu begreifen. Tantra (hinduistisch wie buddhistisch, SW), versucht jede Erfahrung als Vehikel zur Ganzheit zu nutzen.

Tantra heißt, die Erfahrungen gewöhnlicher Freude als Mittel zu nutzen, um Ganzheit oder Erleuchtung zu begreifen. Durch geschickten Umgang mit Verlangen und zunehmende Vertrautheit mit Freude lässt sich Seligkeit erlangen. Zwar gibt es eine weit verbreitete kulturelle Konditionierung, dass Religion das Gegenteil von Freude sei und das Ablehnen oder Nicht-Erfahren von Freude eine moralische Tat, das ist aber eine verkehrte Einstellung. Wenn der Schüler es schafft, immer mehr Glück und Freude zu erfahren, ohne sie mit begehrlichem Verlangen oder Schuldgefühlen zu „beflecken“, kann die Erfahrung tiefer werden. Dazu ist es nötig, sein Verständnis zu erweitern, geistige und körperliche Energien mehr und mehr zu meistern, immer intensivere Erfahrungen von Freude zu machen und so immer besser zu leben.
Letztlich geht es bei der Praxis des Tantra darum, wie viele Sinnesfreuden man zulassen kann, ohne außer sich zu geraten. Normales Verlangen unter einem geistigen Deckmantel zu kultivieren dagegen führt nur zu mehr Verstrickung und Unzufriedenheit.

[Hier lässt sich eine Parallele zum hinduistischen kaschmirischen Shivaismus ziehen, welche Lehre hier aber die ältere ist, oder ob beide unabhängig entstanden sind, lässt sich nicht genau nachrecherchieren.]

Die tantrische Lösung ist die völlige Umwandlung unserer Sichtweise. Durch die tantrische „Alchimie“ wird die Energie des Verlangens, das uns normalerweise von einem Konflikt in den nächsten bringt, in eine transzendente Erfahrung von Freude und Weisheit verwandelt. Wo unsere Erfahrung von Freude normalerweise von Unwissenheit verdunkelt ist, wird durch das konsequente Üben tantrischer Techniken die Freude nach und nach mit der Erfahrung von Licht gekoppelt, und so wird unser Organismus immer mehr fähig, selbst ekstatische Freude zu empfinden, ohne wieder ins Dunkel zu fallen. Dazu braucht es aber einen sehr gesammelten Geist und eine heldenhafte Einstellung. (Lama Yeshe) 

Die Übereinstimmung mit dem Vira-Ideal aus dem Hindu-Tantra ist hier überaus auffällig und nicht zu leugnen. (SW) Ähnlich wie der Vira-Pfad ist auch der Vajrayana-Pfad nur für wenige Praktizierende geeignet, die bestimmte Qualitäten haben wie Mut, Risikobereitschaft, Loslassen von auch sehr elementaren alten Überzeugungen, den Willen, die Praxis zum Lebensmittelpunkt zu machen, den endgültigen Verzicht auf bisherige andere Lebensmittelpunkte, allumfassendes Mitgefühl und eine große Experimentierfreude. (Helmut Poller)







Zusammenfassung
Der Weg des buddhistischen Tantra ist durch lange Tradition zusammengefasst und kanonisiert worden. Es ist ein stufenweiser Weg voller Klarheit. Es geht um die Erkenntnis der Leerheit und gleichzeitigen Glückseligkeit, der uns allen innewohnenden Buddha-Natur, die uns nur verschleiert erscheint.
Nach einem Training der grundlegenden Begriffe der Hinayana- und Mahayana-Stufe des Buddhismus erfolgen die schritte der Zufluchtnahme, des Bodhisattva-Gelübdes und, nach langwierigen vorbereitenden Übungen, der Initiation durch den Guru (Lama) in ein bestimmtes Mandala.
Die eigentliche Tantra-Praxis gliedert sich in zwei Phasen: in der ersten, der Erzeugungsphase, wird mit Hilfe eines täglichen Sadhana die Gottheit (Yidam) visualisiert, bis man sich selbst ständig als Form der Gottheit sehen kann, was tief greifende Transformationsprozesse nach sich zieht. In der zweiten Phase, der Vollendungsphase, wird eine Feinkörperpraxis vollzogen, die der Kundalini-Praxis im Hindu-Tantra sehr ähnelt, mit der Folge der völligen Erkenntnis der Leerheit, der Erfahrung großer Glückseligkeit und innerer Hitze (Tummo). In den hohen Stufen kommt eine spezifische sexuelle Praxis dazu.
Typisch für das buddhistische Tantra sind ethische Regeln, Gelübde (Samaya) genannt, durch deren Einhaltung der Adept mehr und mehr in der Besitz der geistigen und weltlichen Siddhis gelangt. Ziel ist jedoch die völlige Erkenntnis der Leerheit und der Zustand der Erleuchtung, der dann zur Befreiung der anderen Wesen genutzt wird.