Stufenweg des Vajrayana

Die Praxis des Vajrayana folgt im Rahmen der jahrhundertealten Tradition, einem klaren und gut nachvollziehbaren Stufenweg.

Der Einstieg in die Praxis ist eine systematische vorbereitende Schulung mit einer Serie von Übungen, Lamrim genannt, die das Sutra-System in entsprechenden Meditationen bearbeitet. Das gibt es in zahlreichen Formen und unterschiedlichen Längen, und kann sich von Schule zu Schule auch unterscheiden.
Von großer Bedeutung darin sind die drei Schritte Entsagung, Bodhichitta und korrekte Sicht der Leerheit.

Mit Entsagung ist in tantrischen Sinne kein Leben in Abgeschiedenheit gemeint, sondern der bestimmte Entschluss, an Freuden nicht mehr auf die übliche Art festhalten zu wollen und den Enttäuschungen und Frustrationen des gewöhnlichen Lebens ein für alle Mal entschieden den Rücken zu kehren. Die meisten Menschen suchen Zuflucht bei weltlichen Dingen, wie z.B. Beziehung, Geld, Beruf, Immobilien, Statussymbolen, Sex. Aus der gesammelten Erkenntnis, dass das nirgendwohin führt, richtet der angehende Tantriker seine Zufluchtssuche nach den drei Juwelen, also Buddha, Dharma und Sangha, aus. (Lama Yeshe) 

Der nächste Schritt ist die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes. Wenn wir erkennen, dass die allgemein verbreitete Selbstbezogenheit zu einer eingeschränkten Sicht der Dinge führt (weil die Bedürfnisse eines Wesens höher bewertet werden als die der anderen) und unser Herz verschließt, lernen wir nach und nach, unsere Handlungen dem Wohlergehen anderer zu widmen. Die höchste Motivation für den geistigen Weg – und die einzige, die jemanden für den tantrischen Weg befähigt – ist, die schnelle Erleuchtung aus dem Grund erlangen zu wollen, um anderen effektvoll helfen zu können. Diese Motivation nennt man Bodhichitta oder Erleuchtungsgeist. Dies ist kein sentimentaler Geisteszustand, sondern ein klare, entspannte, herzoffene Haltung.
Ebenso wichtig ist es, sich in Gleichmut vor äußeren Bedingungen zu schulen, was laut Keith Dowman bedeutet, immer zu akzeptieren, und mit dem zu sein, was im Moment gerade da ist, inklusive dem, was du als Wesen dazu fühlst.

Der nächste und vielleicht schwierigste Punkt ist die „korrekte Sichtweise der Leerheit“. Dieser hat tief mit den Überzeugungen des Mahayana-Buddhismus zu tun. In aller Kürze: die Welt, so wie sie uns erscheint, ist nicht real, sondern hat eine Art Traum- oder „Matrix“-Charakter. Unser eigener Geist bzw. seine gewohnheitsmäßige Angst zu funktionieren bringt diese illusionäre Sicht hervor, dass sowohl die Dinge im Außen als auch vor allem das innere Selbstgefühl real und eigenexistent sind. Stattdessen sei das Ich nur ein Gedanke, ein Label, das einer Gruppe von sich stets verändernden Teilen gegeben wird.
Vielmehr existieren wir wie ein Regenbogen, der einerseits zwar existiert, aber von speziellen Bedingungen abhängt, z.B. dass Wassertropfen im Himmel, die Sonne und der Standort des Wahrnehmenden zusammenkommen. Von solcher Qualität sei das Wesen aller Dinge. Sie sind ohne konkrete Eigenexistenz, eine flüchtige Zusammensetzung mehrerer Bedingungen. Das Wesen der Dinge ist also letztlich Leerheit.
Diese Sicht gilt als „Mittlerer Weg“ zwischen Eternalismus (Lehre der universalen Vorbestimmung) und Nihilismus (Lehre, dass nichts existiert).

Ngöndro
Wer sich nun intensiver auf die Tantra-Praxis einlassen will, muss vorher die Grundübungen des Ngöndro absolvieren. Die Ngöndros sind nach Schulen verschieden.
Elemente des Ngöndro sind in der Regel meistens
1. 100.000 Niederwerfungen, verbunden mit der Zufluchtsformel („Ich nehme Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha, …), 2. Die Übung zur Entfaltung des Erleuchtungsgeistes
3. 100.000 Vajrasattva (eine Reinigungspraxis, verbunden mit der Visualisation der Gottheit Vajrasattva und einem so genannten 100-Silben-Mantra),
4. das Mandala-Opfer mit der Visualisierung, alle Dinge den Objekten der Zuflucht zu opfern
5. sowie einem je nach Schule unterschiedlichen System des Guru-Yoga.
Aus Sicht der meisten buddhistischen Lehrer sind diese Vorübungen unabdingbar, um negatives Karma zu reinigen, den Schüler zu läutern und vorzubereiten. Durch diese hohe Hürde anspruchsvoller und langwieriger Übungen wird auch eine Vorauswahl getroffen, da nur die ernsthaften und motivierten Schüler übrig bleiben.
Laut Helmut Poller ist das Ngöndro eine Erfindung des Abts Shantarakshita für die tibetische Mönche und hat zum Teil auch die Funktion der Disziplinierung und Unterordnung unter die klösterliche Disziplin. 
Padmasambhava hat ebensowenig ein Ngöndro absolviert wie auch nur ein einziger der 84 indischen Mahasiddhas.

Guru-Yoga
Im tantrischen Buddhismus wird die Bedeutung des Guru als Stellvertreter Buddhas gewaltig – der Meister wird bedeutend wichtiger als im Hinayana oder Mahayana. Laut Peter Gäng finden wir diese Bedeutung in den frühern buddhistischen Tantra-Schriften nicht – hier erscheinen die Lehrer als die Bewahrer der Lehre und Anleiter der Nachfolgenden.
Im tibetischen Kulturkreis wird die Rolle des Guru im Laufe der Jahrhunderte noch mächtiger – ein Lama gilt hier als Glied einer ununterbrochenen Kette von Wiedergeburten, die auf einen alten indischen Meister oder sogar Buddha selbst zurückgeht. 
Das Entscheidende am Guru (oder tibetisch: Lama) ist die Inspiration, die von einem Meister ausgeht, der die Verwirklichung schon erlangt hat und der beweist, dass es möglich ist, ein anderes Leben als das gewöhnliche profane zu führen.
Lama Yeshe versucht die elementare Bedeutung des Guru durch folgendes Gleichnis zu illustrieren: Tantra ohne einen Guru ist, wie statt eines Neuwagens nur die Einzelteile und ein Handbuch zu erhalten, ohne die Kenntnis, diese richtig zusammenzubauen. Der Guru steht in einer Übertragungslinie und ist in der Lage, die verschlüsselten Texte der so genannten Wurzel-Tantras zu enthüllen und praktische Hinweise zur Umsetzung zu geben. Auch ist er mit dem Adhikara, der persönlichen Eignung, des Schülers vertraut und fähig, geschickte Mittel einzusetzen, um ihn maximal zu fördern.
Der eigentliche Guru ist ohnehin die uns innewohnende Weisheit, der äußere Guru ist nur ein Widerschein davon.
Die Praxis des Guru-Yoga hilft, den Kontakt mit dem Guru und der Linie immer wieder aufzufrischen und zu erneuern, so dass er auch das Herz ergreift. Als hinführende Übung zur höheren Praxis ist das Guru-Yoga eine Methode, die zarte Tendenz der Visualisierung eines subtilen Bewusstseinskörpers zu verstärken und auch im Alltag aufrechterhalten zu können.
Aufgrund der im Vajrayana üblichen Geheimhaltungspraxis wird es Schülern zum Teil vermittelt, als sei dies Guru-Yoga schon die Essenz und höchste Stufe des Vajrayana.

Einteilung der buddhistischen Tantras

Wer sein Ngöndro absolviert hat, wird zur Initiation und damit zur eigentlichen Tantra-Praxis zugelassen.

Traditionell gesehen gibt es 4 Klassen des Tantra
1. Carya-Tantra oder Handlungs-Tantra
2. Kriya-Tantra oder Durchführungs-Tantra
3. Yoga-Tantra
4. Anuttara-Yoga-Tantra oder Anuttara-Tantra , d.h. höchste Yoga-Tantra

Die Klassen richten sich nach dem Adhikara des Schülers, z.B. ob sie Rituale lieben, intellektuell veranlagt sind usw., unter anderem auch nach der Geisteskraft des Schülers, nach dem Maß von Verlangen, das er auf seinem Weg nutzen kann.
Ein Praktizierender der ersten Stufe z.B. ist in der Lage, die Energie, die durch das Anschauen eines anziehenden Partners entsteht, umzuwandeln. Bei der zweiten Stufe ist es ein Lächeln, bei der Dritten die Berührung der Hände und bei der letzten Stufe schließlich die Energie, die bei der sexuellen Vereinigung entsteht. 
Das Einbeziehen der Untugenden, der „Wurzeln des Unheilsamen“ in die Praxis ist in Ansätzen im Yoga-Tantra, in voller Stärke erst im Anuttara-Tantra der Fall. Deshalb gibt es einige Autoren, die nur das Anuttara-System als Tantra im engeren Sinne auffassen. 

In der tatsächlichen Praxis kommen allerdings fast nur Anuttara-Tantras vor.
Manche Autoren rechnen lediglich Teile des Ngöndro zu den niederen Tantras.

Die Anuttara-Tantras wiederum gliedern sich in Vatertantras, Muttertantras und nonduale Tantras. Vatertantras betonen die Erzeugungsphase und die Buddha-Form, die Mutter-Tantras die Vollendungsphase und die Leerheit. Die nichtdualen Tantras betonen beides gleichermaßen. Während das Guhyasamaja und das Yamantaka Vater-Praktiken sind, gelten Chakrasamvara und Hevajra als Mutter-Tantras. Kalachakra ist ein Beispiel für eine nonduale Praktik. Diese Einteilung kann allerdings je nach Schule variieren.

Das Mandala

Jede der Gottheiten, in deren Sadhana man initiiert werden kann, hat ein bestimmtes Mandala, das ikonographisch festgelegt ist. Diese Gottheiten repräsentieren einen bestimmten Aspekt der Buddhanatur, wobei deutlich ist, dass sie Konstruktionen des Geistes sind und nicht eine Eigennatur besitzen. Sie alle verkörpern in unterschiedlicher Weise die Aspekte von Leerheit, Erkenntnis und Mitgefühl.

Die Gottheiten lassen sich nach der buddhistischen Systematik grob in „Familien“ einteilen. Die erste Einteilung ist die Differenzierung in 5 Buddhafamilien, die für die 5 skandhas und die 5 Elemente stehen. Sie werden die Dhyani-Buddhas genannt und haben eine wichtige Funktion bei der Initiation. Sie stehen auch in Bezug zu den Geistesgiften Gier, Hass und Verblendung, wohl der Vollständigkeit halber wurde da noch Stolz und Neid hinzugefügt.

Diesen Familien sind alle möglichen Eigenschaften zugeordnet, darunter als auffälligste auch je eine Farbe. Diese differenzieren sich dann in die ganze Vielfalt der Meditationsgottheiten weiter.
- Weiß transformiert den Wahn der Verblendung die Weisheit der Realität
- Gelb transformiert Stolz in die Weisheit der Gleichförmigkeit
- Blau transformiert Hass in spiegelgleiche Weisheit
- Rot transformiert den Wahn der Anhaftung in die Weisheit der Einsicht
- Grün transformiert Eifersucht in die Weisheit der Vollkommenheit
In einem der frühesten Tantras, dem Guhyasamaja-Tantra (Tantra der verborgenen Vereinigung) lässt sich diese Einteilung in Fünfergruppen zum ersten mal exemplarisch nachvollziehen, fast alle nachfolgenden Schriften beziehen sich darauf.

In der Regel hat ein Mandala eine zentrale Gottheit, oft in Vereinigung mit einem weiblichen Gegenpart, die von einer zuweilen riesigen Anzahl männlicher, weiblicher und zornvoller Gottheiten umgeben ist. Ein Mandala ist von seinem Aufbau er immer in einen quadratischen Palast eingebaut, dessen vier Tore die vier Himmelsrichtungen anzeigen.
In der Regel stehen die Nebengottheiten in einem Bezug zu den Himmelsrichtungen.
Haupt- und Nebengottheiten sind charakterisiert durch: Farbe, Zahl der Köpfe und Arme, Stimmung (friedvoll, halbzornvoll, zornvoll). In den Händen tragen sie bestimmte Gegenstände oder Attribute, die alle eine ausgefeilte symbolische Bedeutung besitzen.

Eine Initiation in die Praxis einer bestimmten Gottheit basiert auf einem alten kanonischen Text, dem so genannten Wurzel-Tantra, in dem eine mächtige Fülle verschiedener Aspekte und Meditationen in Sandha-Sprache zusammengefasst wird. Als Meditationsgrundlage eignet sich ein solcher Text kaum. Zusätzlich erhält der Initiand einen Sadhana-Text, in dem eine auf dem Wurzeltantra basierenden Praxisfolge angegeben ist, sowie mündliche Mund-zu-Ohr-Instruktionen vom Guru, ohne die die Praxis nicht zu wirklichem Verständnis führt. Diese Instruktionen müssen unbedingt geheim gehalten werden.