Die tantrische Sadhana

Die tantrische Praxis, die kontinuierlich zu vollziehen ist, wird Sadhana genannt.
Die tantrische Sadhana ist äußerst komplex und verlangt Anstrengungen auf allen Ebenen: körperlich, geistig und emotional. (hier ist eine Wurzel der Integralen Praxis! -  SW)
Im Sadhana werden die Elemente und Komponenten des tantrischen Weges vereint.

Kennzeichnend für die tantrische Praxis ist eine starke Hinwendung zum Körper, sowohl physisch, als auch in seiner subtilen Form. Der Körper ist dabei ein Mikrokosmos, der analog zum Kosmos gedacht wird. Die Gottheiten und kosmischen Energien werden im Körper lokalisiert, verehrt, gehandhabt und beherrscht und in ihre höheren Formen verwandelt .
Im Folgenden sollen die wichtigsten Elemente der tantrischen Praxis aufgezählt und erläutert werden.

Visualisierung
Ikonographische und andere Visualisierungen sind im hinduistischen und noch mehr im buddhistischen Tantra essentiell und unabdingbar.
Die gesamten tantrischen Schriften setzen bereits eine hohe Fähigkeit der Visualisierung voraus. Im Yoga ist das als Technik des Dharana bekannt. Vermutlich ist in der indischen traditionellen Spiritualität dieses Element wesentlich mehr gepflegt worden als bei uns im Westen.
Bei der Visualisierung nährt man die Vorstellung, über bestimmte Qualitäten zu meditieren – die Gottheit verkörpert diese Qualität.
Eine Analogie wäre, wie ein Icon ein Programm auf dem Bildschirm öffnet. Denn so funktioniert der Verstand: man fokussiert seinen Verstand auf etwas, und er nimmt dessen Form an. Deshalb ist es so gut, auf Bilder von Gurus zu meditieren 

Die wichtigsten Hindu-Götter
Der persönliche Gott, Ishvara, manifestiert sich dreifach als Schöpfer, Erhalter und Zerstörer der Welt.

Der Schöpfergott heißt Brahma (nicht Brahman). Er hat vier Köpfe. Brahma-Verehrer gibt nur wenige.
Seine Gefährtin heißt Saraswati, ist Göttin der Kunst, Musik und Weisheit. Sie wird mit einem Weißen Sari und einer Vina (Saiteninstrument) dargestellt und schaut ruhig und friedlich. Sie zieht künstlerische und kreative Menschen an.

Der Erhalter heißt Vishnu: er repräsentiert Güte und Gerechtigkeit. Er ist die Kraft, die Ordnung schafft im Universum. Er zieht Menschen an, die eine helfende Natur haben, Idealisten sind und bereit sind zur Verantwortung für das Leben.
Seine Gefährtin ist Lakshmi, die Göttin der Fülle, der Schönheit und des Reichtums. Sie beschenkt die Menschen mit allem, was sie brauchen. Sie zieht Menschen an, die Gott in der Schönheit suchen und auch die, die ihren Sinn im Dienst am Nächsten sehen.

Vishnu verkörpert sich als Avatar auf der Erde, sobald er gebraucht wird. Seine beiden wichtigsten Manifestationen sind Rama und Krishna.
Rama steht für Tugend und Gerechtigkeit: er lehrt durch sein Beispiel, wie man ein rechtschaffenes Leben voller Tugenden leben kann. Er zieht Menschen an, die sich hohe ethische Ideale setzen und die den Weg von Familie, Arbeit und Gesellschaft für sich wählen.
Seine Gemahlin ist Sita, sie verkörpert die Gerechtigkeit und Harmonie in der Natur.
Ramas Diener ist der Affengott Hanuman. Er verkörpert den hingegebenen und disziplinierten menschlichen Geist. Für seinen Herrn tut er alles und verübt diverse Male die größten Heldentaten.
Krishna repräsentiert Freude, Heiterkeit und das Sehen von Gott in Allem. Er ist geeignet für lebensfrohe und hingebungsvolle Menschen. Seine Gemahlin heißt Radha. Krishna und Radha beherrschen das feine Spiel der erotischen Liebe perfekt.

Der Zerstörer ist Shiva: er steht für Transformation von niederer in höhere Natur. Gefährliche Schlangen sind von ihm gezähmt und dienen als Schmuck. Er zieht zielstrebige und introvertierte Menschen an, die gerne meditieren und „es wissen wollen“.
Die Gefährtin Shivas heißt im Tantra Shakti. Sie steht für die feurige weibliche Energie und die Natur aller Dinge. Sie verkörpert sich in mehreren Formen.
In ihrer lieblichen süßen Form als Parvati.
In ihrer kraftvollen, heldenhaften, aber auch mütterlichen Form als Durga, auf einem Tiger reitend, mit spirituellen Waffen reich bestückt.
In der schwarzen, furchterregenden Form als Kali. Sie ist die Göttin der Zeit. Ihr Schmuck besteht aus Schädeln und Knochen, was die Zerstörung aller unwirklichen Dinge symbolisiert. Sie bewirkt starke psychisch-emotionale Reinigung, den Weg durch die Untiefen des Unbewusstseins. Sie ist freundlich zu ihren Verehrern, verlangt aber absolute Hingabe.
Ganesha, der elefantenköpfige Gott ist Sohn von Shiva und Parvati. Er verkörpert die Kraft des Beginnens, ist der Beseitiger aller Hindernisse auf dem spirituellen Pfad.

Es gibt noch andere Götter im hinduistischen Pantheon, die aber weniger bedeutend sind.
Ebenfalls möglich zum Anrufen sind Buddha, der zwar eine quasi-historische Persönlichkeit ist, aber im Buddhismus teilweise auch als Gottheit verehrt wird. Er verkörpert das Prinzip von Erleuchtung und Weisheit.
Im Buddhismus verehrt und geliebt ist auch die Göttin Tara, die Heilung und Mitgefühl verkörpert.

Nach der Visualisierung, die möglichst genau sein soll, folgt die Identifikation mit der dargestellten Gottheit. Das beinhaltet ein Erwecken der inneren schlummernden Kräfte, die durch die Gottheit symbolisiert werden.

Nyasa

Mit Nyasa werden rituell-meditative Projektion von Gottheiten oder höheren Prinzipien in verschiedene Körperteile bezeichnet.
Durch eine Kombination von Visualisierung, Berührung und entsprechendem Mantra werden nach tantrischer Auffassung die subtilen Kräfte im betreffenden Körperteil geweckt. Man legt die Fingerspitzen oder die rechte Hand auf bestimmte Körperteile, die dadurch sensibilisiert werden. Meist wird das Berühren des Körpers von einem Mantra begleitet, so dass die Kraft der Gottheit nach und nach in den Körper projiziert wird
Man kann Nyasa bei sich selbst und bei anderen machen. Es gibt viele Formen des Nyasa, die sich bezüglich Art der Berührung und Mantra unterscheiden. Einzelne tantrische Gruppen praktizieren oft eigene Formen, die aber im Wesentlichen immer demselben Prinzip folgen.

Auch zitieren Verschiedene Tantra-Schriften unterschiedliche Arten von Nyasa.
Typisch ist z.B. das Yogini-Tantra: „Mit den beiden ersten Fingern berühre deines Partners Kopf, Stirn, Augen, Hals, Ohrläppchen, Brüste, Oberarme, Herz, Nabel, Oberschenkel, Füße und Geschlechtsorgan. Lade diese Zentren auf mit der vitalen Energie der Transformation.“
Auch die Technik des Yoga-Nidra hat ihre Ursprünge im tantrischen Nyasa 

Mudra

Unter Mudra versteht man Handhaltungen, Stellungen der Finger und Hände, zum Teil des gesamten Körpers. Sie sind verbunden mit einer Konzentration auf bestimmte Energien und Bewusstseinszustände (AN)
Rituelle Stellungen der Hand rufen bestimmte Reaktionen im Geist der Praktizierenden hervor. Ursprünglich sind Mudras Formen der Gebärdenkommunikation, unter anderem in Verbindung mit indischem Tanz, die mit der Zeit immer stilisierter wurden.

Beispiele wären hier das Khechari-Mudra, bei dem die Zunge so weit nach hinten in den Rachen geschoben wird, dass der Atemfluss unterbrochen werden kann. Nach Ansicht verschiedener Hatha-Yogis ist dies eine Schlüsseltechnik zur Kundalini-Erweckung, erfordert aber langwierige Übung.
Beim Yoni-Mudra werden die Körperöffnungen des Kopfes alle versiegelt. In der Gheranda Samhita steht dazu: „Ziehe den prana ein und vereinige ihn mit dem apana. Denke an den Subtilen Körper und die Chakras der Reihe nach.“ Diese Übung lässt sich auch in Verbindung mit dem sexuellen Akt durchführen 

Mudra wie Nyasa illustrieren die Bedeutung, die die nonverbale Kommunikation im Tantra hat.

Bhuta-Shuddhi – Läuterung der Elemente

Diese Praxis wird vor tantrischen Ritualen und Gebeten vollzogen und besteht aus einer allmählichen Auflösung eines jeden der fünf grobstofflichen Elemente, aus denen der Körper besteht, in ihre subtilen Quellen. So findet eine allmähliche „Rückbildung“ statt, eine Neuerschaffung des Körpers, der dadurch fähiger zur Andacht ist


Tantrische Kunst
Der Tantrismus hat reichhaltige und überaus interessante Kunstformen entwickelt: eine reiche Vielfalt von Formen, Klang- und Farbverbindungen, graphische Muster, Skulpturen, Malereien und Symbole von persönlicher und universeller Bedeutung. Diese Kunst möchte ein „höheres“ Wissen vermitteln und erschöpft sich nicht in der ästhetischen Bedeutung, sondern ihre Bedeutung liegt in der Aussage, die sie vermittelt, in der Weltanschauung. In diesem Sinne ist die tantrische Kunst sichtbar gemachte Metaphysik.

Außer Yantras und Mandalas umfasst die tantrische bildende Kunst die Darstellung des feinstofflichen Körpers, kosmologische Diagramme, sowie Darstellungen von Gottheiten, Symbolen und Herstellung rituellen Zubehörs.
Die Dichtkunst und Musik ist in der Welt des Tantra gleichwohl hoch entwickelt. Es gibt ein Zusammenfließen mit indischer Kunst und ihrem spirituellen Hintergrund im Allgemeinen. 
Auf der Suche nach Einheit identifiziert sich der tantrische Künstler mit den universalen Kräften und kann hinter den Erscheinungen eine wahrhaftigere Wirklichkeit sehen. Der tantrische Künstler stellt nicht seine persönliche Sichtweise oder seine Entfremdung dar, sondern hat das Ideal, im Einklang mit der Ordnung, in der er sich befindet, zu sein, und die harmonische Ganzheit aller Aspekte darzustellen.
Die tantrische Kunst ist aufs engste mit dem tantrischen Ritual verbunden, stellt Objekte für das Ritual her und wird auch vom gelebten Ritual wieder rückinspiriert.

Das Bildwerk muss mit den kanonischen Texten übereinstimmen, jeder Fehler oder Unklarheit wird als mangelndes Wissen oder Können aufgefasst. In der Regel versenkt sich der Künstler beim Herstellen seiner Werke in Meditation oder Trance, oft mit Hilfe von Mantras und visualisiert das zu schaffende Werk innerlich. D.h. die Kunst wird zum realen spirituellen Akt. Die künstlerische Arbeit ist kein Selbstzweck, sondern Mittel. Der Künstler verfolgt seine Arbeit ohne Eitelkeit aus einer bestimmten beobachtenden Distanz. Sein Weg ist der des selbstlosen Tuns, er will nicht sich selbst ausdrücken, sondern Werkzeug oder Kanal sein für das Göttliche, was ausgedrückt werden will. Deshalb bleiben tantrische Werke meistens anonym und verfolgen auch das Ideal, alle individuelle Eigenart auszuschließen. Die Ausübung dieser Kunst verwandelt den Künstler, so dass er mehr und mehr zum Spirituellen wird.
Tantrische Kunst hat universelle Formen in seinem über-individuellen Zeichensystem vorweggenommen, die im 20. Jh. in den Werken abstrakter Künstler mit spirituellen Anspruch wieder auftauchen. Ajit Mookerjee hat Ähnlichkeiten zum Stil von Künstlern wir Mondriaan, Klee und Brancusi festgestellt, die, jeder auf seine Art, auch bestrebt waren, hinter die Formen zu sehen und das Allgemeine auszudrücken. (Ajit Mookerjee) 

Tantrische Wissenschaft
Tantra hat sich traditionell viel mit Wissenschaften beschäftigt, wie Astronomie, Alchimie, Kosmologie, Medizin, Anatomie. Tantra ist laut Woudroffe als umfassende enzyklopädische Wissenschaft anzusehen.
Wissenschaft im tantrischen Sinne geht nicht von Abstraktionen aus, sondern immer von der direkten Erfahrung, von dem, was der Fall ist (Jochen Kirchhoff).
Die Methode der modernen Wissenschaft, Ganzheiten aufzuteilen, um sie besser untersuchen zu können, entspricht nicht der tantrischen Art, in Ganzheiten zu denken und Analogien zwischen allen Aspekten des Lebensnetzes zu sehen.

Lebensstil des Tantrikers
Nik Douglas hält die kreative Haltung zum Leben als eines der zentralsten tantrischen Prinzipien und ist überzeugt, dass das regelmäßige Brechen von Gewohnheiten zu den zentralen Handlungsanweisungen des Tantra gehört.
Ein guter Schlaf ist wichtig. Keine großen Mahlzeiten am Abend einnehmen. Abends sollte nach Büro- und Computerarbeit ein Bad genommen werden, sowie ein wenig Yoga, Tanzen oder Pranayama.
Kenntnisse in Massage, Heilkunst, Parfümen und Ölen sowie sorgfältige, saubere Körperhygiene sollten zum Lebensstil eines Tantrikers im ausgesprochenen Maße dazugehören (Nik Douglas)
Die Wahl der Wohnung, die Einrichtung und ggf. spezielle Tempel für erotische Ritualbetätigung sollten eine wichtige Rolle spielen.
Die Möbel sollten möglichst nah am Boden sein, um ein Gefühl der Intimität zu schaffen. Bunte Vorhänge, Teppiche und Kissen, Räucherstäbchen, Spiegel, Kerzen und ausreichende Wärme sind alles Zutaten zu einem erotischen Lebensgefühl (Andro)
Die Kleidung sollte gut gereinigt und gelüftet sein. In der Freizeit sollte der Tantriker lockere und ästhetisch ansprechende Kleidung tragen. Schmuck für Männer und Frauen spielt in der tantrischen Tradition eine wichtige Rolle sowohl als psychischer Schutz als auch zur Verschönerung.

Zusammenfassung des Kapitels:
Die kontinuierlich vollzogene tantrische Praxis wird Sadhana genannt. Sie ist anspruchsvoll, fordernd und vielseitig. Sie beinhaltet verschiedene Elemente für Körper, Geist und Sinne.
Wesentlich am Tantra ist der Guru, der in einem Initiationsprozess das Tantra-Wissen auf den Schüler überträgt. Außerhalb der Initiation sollte kein traditionelles Tantra betrieben werden.
Ziel des Tantra ist moksha bzw. samarasa, der erleuchtete zustand des Körpers und des Geistes, der gleichzeitig ein spontanes in-der-Welt-Sein beinhaltet. Spezifisch für Tantra ist jedoch auch ein positives Interesse an den Siddhis, den magischen Kräften, die der Adept auf seinem Weg erwirbt. Im Tantra ist weltlicher Erfolg ebenso erlaubt wie geistiger und sie gehen Hand in Hand.
Elemente der tantrischen Praxis sind
1.die Visualisierung ikonographisch exakter archteypischer Gottheiten
2. Rezitation magischer Silben, Mantra, dies ist ein gewichtiger Hauptteil der Praxis
3. Praxis mit symbolischen Yantra oder Mandala genannten Diagrammen
4. Nyasa bzw. die Projektion bestimmter Kräfte oder Gottheiten in bestimmte Körperteile
5. Mudra – das Einnehmen bestimmter Körperhaltungen
6. Bhuta-Shuddhi - Reinigung der fünf Elemente
Dazu kommen die in den Kapiteln „Yoga“ und „Ritual“ beschriebenen Praktiken. All diese Praktiken kreieren ein magisches zusammenhängendes Universum, das durch vielfache Analogien zutiefst sinnstiftend ist.
Tantra hat auch zu einer spezifischen Kunst und Wissenschaft geführt.