Tantra-Yoga-Feinkörperlehre

Yogischer Körper

Der Ausgangspunkt für die tantrisch-yogische Praxis ist der menschliche Körper. Im Gegensatz zu anderen Lehren ist tantra der Ansicht, dass sich im Körper ein Reservoir ungeahnter Möglichkeiten befindet.

Yoga und Tantra vertreten die Ansicht, dass der direkt wahrnehmbare Teil unserer Realität nur einen kleinen Ausschnitt ausmacht und dass es verschiedene noch elementarere Existenzebenen gibt, die unseren Sinnen und Instrumentarien verborgen sind.
Wir finden hier die in vielen Kulturen geteilte Auffassung, dass der anatomisch beschreibbare grobstoffliche Körper ein Double aus feinerer Materie oder Energie hat, das eine eigene Anatomie und Physiologie aufweist. Die Auswirkungen des Subtilkörpers auf das tägliche Leben soll jedoch unmittelbar erfahrbar sein und und auch normalen Menschen zugänglich. In der tantrischen und hatha-yogischen Literatur finden wir vielfache Schilderungen der Elemente des subtilen Körpers, wie den Chakras oder Nadis.
Während die offizielle westliche Medizin dies als Fehlinterpretation abtut, gelten diese „Organe“ den meisten Hindu-Tantrikern und Yogis Schulen als Realitäten, wenn auch nur für hellsichtige Menschen sichtbar, die den „subtilen Sinn“ entwickelt haben.
Einer anderen Gruppe von Tantrikern, und hier vor allem den buddhistischen, dienen diese „Strukturen“ lediglich als innere Konzentrationsbilder ohne ontologische Realität.

Vedantisches Modell
Das Vedanta-Modell der der drei Körper und fünf Hüllen kommt schon in den Upanishaden vor und wird in allen non-dualistischen Schulen des Hinduismus, auch den tantrischen, weitgehend akzeptiert.
Dieser Lehre zufolge gibt es einen grobstofflichen Körper, einen feinstofflichen, der drei Hüllen beinhaltet, sowie einen Ursachen- oder Kausalkörper.

Der grobstoffliche Körper ist der physische Körper, besteht aus den fünf Elementen und ist den Prozessen Geburt, Wachstum, Veränderung und Tod unterworfen.

Der feinstoffliche Körper wird von Hellsichtigen als strahlend und leuchtend gesehen. Er enthält drei Koshas oder Hüllen:
1. die Pranamaya-Kosha entspricht der „Astralebene“ – hier existieren die Prana-Energieströme, die Nadis und hier ist eine der Hauptaktivitäten der Chakras
2. die Manomaya-Kosha entspricht dem Intellekt oder Geist (englisch mind)
3. die Vijnanamaya-Kosha enthält die höheren Denkorgane Buddhi und Ahamkara (manche würden diese Ebene mit Seele oder auch „höheres Mental“ übersetzen)

Schließlich existiert der formlose Ursachenkörper – hier sind die Ursachen, die kosmischen Urprinzipien und das spezielle Karma dieses Körpers gespeichert. Man erfährt diesen Körper nur selten und dann in sehr hohen Meditationsstufen, aber er wirkt fortwährend auf die anderen Körper und Hüllen ein. Erfahrungen mit diesem Körper enthalten immer ein wonnevolles Gefühl

Letztlich bestehen alle Körper aus demselben „Material“, der kosmischen Shakti. Man kann sich das so vorstellen, dass die Körper unterschiedliche Schwingungs- oder Aggregatzustände der Urmaterie sind. 

Körper und Zustände
Hier besteht eine feine Verbindung zu einer anderen einflussreichen hinduistischen Lehre, diejenige von den vier Zuständen. Sie wurde zuerst in der Mandukya-Upanishad formuliert, in Bezug auf die esoterische Bedeutung des Mantra OM.
OM verkörpert Brahman, das Absolute. Die Schrift unterscheidet drei natürlichen Zustände des Menschen, die je einem Laut des OM, auch AUM geschrieben, zugeordnet sind. Das A steht für den Wachzustand, das U für den Traumzustand, das M für den Zustand des Tiefschlafes. Die Stille danach ist Sinnbild für den Vierten Zustand, Turiya, der sich qualitativ von denen unterscheidet und den Urgrund dieser drei bildet. Turiya ist reines Bewusstsein vollkommener Einheit.

Es lässt sich ein offensichtlicher Zusammenhang von den Zuständen zu den drei Körpern feststellen, als ob die Körper die Träger der Zustände wären: der grobstoffliche Körper für den Wachzustand, der subtile für den Traumzustand, der kausale für den Tiefschlaf. Zu letzterem hat der indische Weise Ramana Maharshi einmal gesagt: was nicht im Tiefschlaf vorkommt, existiert nicht.“
Turiya und nonduales Bewusstsein stehen ebenfalls in Entsprechung – sie zu realisieren, ist das Ziel der meisten asiatischen Wege.

Bei der anschließenden Diskussion über Chakra und Kundalini sind diese Konzepte von hoher Wichtigkeit für das Verständnis.

Prana
Prana bedeutet in der tantrischen und yogischen Lehre „Lebensenergie“ und entspricht dem Orgon von Wilhelm Reich, dem Od Reichenbachs, dem Chi der Chinesen und dem Ki der Japaner. Russische Parapsychologen haben den Begriff „Bioplasma“ eingeführt.
Der westlichen Wissenschaft ist Prana unbekannt und nicht anerkannt. Der Yoga-Autor Georg Feuerstein ist der Auffassung, „wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis das neu entstehende wissenschaftliche Paradigma zu einem konsistenten Modell der bioenergetischen Felder führt, das uns dann helfen mag, die seltsameren Praktiken des Hatha-Yoga zu verstehen und vielleicht auch zu rechtfertigen.“

Die Tradition des Yoga und Tantra operiert jedoch ganz selbstverständlich mit dem Konzept von Prana. Prana bedeutet außer Energie auch Atem, Ausstrahlung, Fülle, Anziehungskraft.

Menschen haben unterschiedlich viel Prana in unterschiedlichen Körpern und Energiezentren, den so genannten Chakras, die ich weiter unten noch ausführlicher behandeln werde. Z.B. bedeutet viel Prana im untersten Chakra viel Körperkraft und Gesundheit, im zweiten Chakra eine starke Sexualität und hohe erotische Anziehungskraft, im dritten Chakra Charisma, im vierten emotionale Stärke. Im fünften Chakra heißt viel Prana eine hohe Kreativität und Kraft des Selbstausdrucks, im sechsten intellektuelle Klarheit, im höchsten Chakra Führung und göttliche Gnade.

Prana ist zum Teil angeboren, zum Teil muss es durch verschiedene Quellen erworben und erhalten werden.
In der Entsprechung zu den 5 Elementen lässt sich Prana aus guter gesunder Nahrung gewinnen (Erde), aus gutem, sauberen und ausreichendem Trinken (Wasser), aus regelmäßigem Kontakt zum Sonnenlicht (Feuer), aus frischer und gesunder Atemluft (Luft), sowie von Kraftorten oder besonderen spirituellen Meistern, was in diesem System dem Raum oder Äther entspräche.
Während Prana immer wieder neu getankt werden muss und in seiner Essenz „endlich“ ist, haben Menschen, bei denen Kundalini aktiv ist, die Erfahrung unendlicher Energie, wie an eine unversiegbare Prana-Quelle angeschlossen zu sein.

Der verfeinerten indischen Prana-Lehre zufolge teilt sich Prana in fünf verschiedene „Winde“ oder Steuerungsenergien. Diese sind:
Prana, die Energie hinter dem Atemsystem
Apana: die Energie des Ausscheidens, der Sexualität, Menstruation und Geburt
Samana: Die Energie hinter der Verdauung
Vyana: Blutkreislauf und Bewegungssystem
Udana: Nervensystem, Kommunikation, Gehirn und Hormone.
Diese Einteilung entspricht teilweise der funktionellen Einteilung der wissenschaftlichen Anatomie.

Die Nadis
Nadis sind Energiekanäle, sie transportieren Prana in die physischen Organe des Körpers und zu den Energiezentren, den Chakras und dadurch zu den geistigen „Organen“. Sie gehören zum Subtilkörper und zu der Energiehülle. Die Nadis sind analog mit den Meridianen, die die chinesische Medizin erwähnt. In den indischen Schriften werden 72.000 Nadis erwähnt, evtl. ist dies synonym mit „sehr viele“.
Viele dieser Nadis sind unrein, verstopft oder zu schwach, um große Mengen Energie zu transportieren. Das kann an falscher Ernährung und Lebensführung liegen, an emotionalen Traumata sowie Gedanken des Hasses, Zorns oder der Angst. Die meisten Nadis sind aber laut yogischer Lehre evolutionär noch nicht geöffnet und müssen erst durch geeignete Methoden erschlossen werden.
24 der Nadis werden als besonders wichtig bezeichnet und davon gelten wiederum drei als Hauptkanäle: Sushumna, der Zentralkanal, der im Feinstoffkörper entlang der Wirbelsäule vom Damm bis zum Scheitel verläuft. Links daneben, sich mehrmals um sie schlängelnd, Ida, die im linken Nasenloch endet sowie rechts daneben Pingala, die im rechten Nasenloch endet.
Ida Nadi steht für den femininen, lunaren und rezeptiven Aspekt im Menschen, sie ist stärker in Phasen der Konzentration, der Stille und der Empfänglichkeit. Pingala Nadi steht für den männlichen, solaren, aktiven Part, und ist während Phasen der Aktivität, der Logik, der harten Arbeit und der Entscheidung dominant.
Im gesunden Normalfall wechseln die beiden Nadis ihre Dominanz alle ein bis zwei Stunden. Jeder kann das überprüfen, indem er nachschaut, durch welches Nasenloch der Atem gerade stärker fließt. Nur in der Übergangsphase fließt der Atem durch beide Löcher zugleich, dann ist Prana teilweise in Sushumna.
Die Sushumna ist in der Regel für stärkere Energien verschlossen und muss durch geeignete Praktiken erweckt werden. Dann kann die Kundalini-Kraft hochsteigen. Zur Reinigung und Öffnung der Kanäle ist yogischer Auffassung zufolge meist Pranayama, yogische Atemtechnik, notwendig

Die Granthis
Während des Aufstiges der Kundalini gibt es drei Sperrpunkte, die der Yogi „knacken“ muss, die Granthis genannt werden.
Brahma-Granthi oberhalb des unteren Chakra steht für die Barriere zwischen physischer Welt und Astralwelt. Ist dieser Knoten gelöst, nimmt der Aspirant nicht mehr nur die physische Welt wahr, sondern die subtile Welt mit all ihren feinen Formen und Energien
Vishnu-Granthi oberhalb des Herzchakra symbolisiert die Barriere zwischen Astraler und kausaler Ebene, hier wird das Ich-Gefühl zugunsten einer Einheitswahrnehmung aufgelöst
Rudra-Granthi oberhalb des 3. Auge steht für den Übergang vom Kausalen zum Nondualen, zur Brahman-Ebene. Hier kommt es zur kosmischen Erfahrung von Liebe, Verbundenheit und Gottesnähe. 


Tod und Wiedergeburt
Kennzeichnend für die tantrische Methode ist, dass sie sich mit den elementaren Ereignissen und Kräften im Leben des Menschen beschäftigt. Demzufolge spielt auch der Tod als Ereignis und Lehrmeister eine wichtige Rolle.
Im antiken Indien pflegten viele Arten von Sadhus, Yogis und insbesondere auch die tantrischen Aghoris und Kapalikas auf Leichenverbrennungsplätzen zu leben. Der tiefere Hintergrund dieser Lebensweise war nebst der Vorbereitung auf den eigenen Tod die Absicht, die Todesangst, Ursprung aller anderen Ängste, abzubauen, indem man mit dem Phänomen des Todes familiär wird. Dies sollte den wahren Sinn des Lebens offenbaren und es ermöglichen, zu sich selbst, zu anderen und zu menschlichen Werten und Normen die richtige Einstellung zu finden

Dem nicht genug: nach Eliade ist es ein wesentliches und charakteristisches Merkmal tantrischer und yogischer Praktiken sowohl hinduistischer als auch buddhistischer Prägung, die Erfahrung des Todes in der Meditation, im sadhana vorwegzunehmen.
Man erfährt durch den Stillstand und die Umkehrung bestimmter Lebensprozesse, wie sich die Elemente im Verlaufe des Todes auflösen. In diesem Sinne ist ein Tantriker ein „Im Leben Toter“, der seinen Tod schon erfahren hat und doch unter den Lebenden weilt, ganz im Sinne einer tieferen spirituellen Initiation. Diese Erfahrung nimmt ihm nicht nur jede Angst vor dem Tod, sondern gewöhnt ihn auch an die Prozesse des Sterbens und die dazu nötige Haltung, um z.B. erleuchtet zu werden oder eine günstige Wiedergeburt zu erhalten
Im Hindu-Tantra sind Übungen überliefert, die die die Angst vor dem Tod nehmen sollen.

Nach vedantischer Auffassung verlässt die Seele im Moment des Todes zusammen mit dem Astral- und dem Kausalkörper den physischen Körper, der sich mit dem Tod auflöst. Im Astralkörper sind wichtige Daten aus dem vergangenen Leben gespeichert wie: Erinnerungen, Neigungen, Fähigkeiten, Temperament usw. Im Kausalkörper ist das noch abzuarbeitende Karma gespeichert. Nach dem Tod verweilen der Kausal- und Astralkörper in der Astralwelt, um von dort aus wieder zu reinkarnieren, sobald die Seele reif ist und ein passender Körper gefunden ist, der neue karmische Lektionen ermöglicht. Dies kann von wenigen Tagen bis zu Jahrtausenden dauern.
Wenn der Praktizierende zu Lebzeiten samadhi erreicht hat, ist die karmische Lektion zu Ende, und er wird nicht mehr wiedergeboren. Tantra ist im hinduistischen Kontext ein Weg, das in einem einzigen Leben zu schaffen, soweit die Umstände günstig sind.

Der buddhistische Vajrayana hat eine noch viel diffenrenziertere Theorie zu Tod und Wiedergeburt hinterlassen. Sie ist hier am Seitenende nachzuschlagen. 

Zusammenfassung dieses Kapitels:
Die tantrische Auffassung des menschlichen Körpers als Mikrokosmos unterscheidet sich nicht wesentlich von den Ideen des Yoga. Neben dem physischen Körper hat der Mensch noch mindestens zwei feinere Körper, den subtilen und den kausalen Körper.
Der Subtilkörper ist wie ein zugrunde liegender Energieschaltkreis. Prana, die grundlegende energie, die mehrere Formen hat, läuft durch Energiekanäle, Nadis genannt, und steuert so die physischen, emotionalen und geistigen Zustände. Bestimmte Energieknotenpunkte entlang der Wirbelsäule, Chakras genannt, sind dabei besonders bedeutsam, weil sie sowohl eine hierarchische Ebene der Höherentwicklung vom profanen Menschen zum voll erleuchteten Individuum anzeigen, als auch Schaltzentralen zwischen den verschiedenen „Körpern“ und die mit ihnen verbundenen Energien darstellen.
Durch konsequente Tantra-Praxis wird die Kundalini-Energie angeregt und steigt durch das mittlere Nadi entlang der Wirbelsäule auf, durchquert dabei die Chakras vom Damm bis zum Scheitel. Kundalini ist für die Tantriker eine Personifizierung der kosmischen Shakti-Ur-Energie. Dieser Aufstiegsprozess bedeutet für den einzelnen eine tiefe und entscheidende Transformation hin zu einem nicht-dualen Bewusstsein und ist von großer Wonne begleitet. Er beinhaltet jedoch auch Gefahren bei unsachgemäßer Handhabung.
Tod ist für die Tantriker nur ein Wechsel des grobstofflichen Körpers, eine spezifische nicht mit dem Ich zu verwechselnde Essenz wechselt nur die Ebenen. Hindu-Tantriker sind der Ansicht, dass der subtile und der kausale Körper die unsterbliche Essenz sind, die in anderer Form immer weiterleben.