Geschichte des Tantra

Rätselhafte „Mode“ und Umwertung aller Werte

Die Ursprünge des Tantra liegen im Dunkeln. Man findet im Tantra sehr alte Elemente, aber die ersten uns überlieferten Schriften sind im 6.Jh. entstanden. Kurze Zeit später wurde Tantra fast so etwas wie eine „pan-indische Mode“ und breitete sich wie ein Lauffeuer aus, um dann wiederum einige Jahrhunderte später in Indien wiederum fast unterzugehen.
Viele Forscher, Wissenschaftler und Historiker versuchen sich dieses rätselhafte Phänomen zu erklären und die Geschichte des Tantra nachzuzeichnen. Dabei kommen sie auf durchaus verschiedene Erkenntnisse, die ich im Folgenden versuchen werde zusammenzufassen.

„Tantra ist eine der buntesten und schillerndsten Blüten der indischen Kultur. Vielleicht war es in noch größerem Maße als alle anderen Bewegungen vor und nach ihm eine kulturelle Revolution. Denn es stellt quasi die ganze Religionswelt auf den Kopf.“ (Christian Fuchs)

Tantra entstand in den Randbereichen

Die Grundtexte des Tantrismus - die Tantras und Agamas - bezeugen, dass Tantra aus einem Randbereich der etablierten Kultur kam - in diesem Falle ist das sogar im geographischen Sinne zu verstehen.
Tantra entwickelt sich gerade an den Grenzzonen Indiens: Assam, Bengalen, Kaschmir, also in den mäßig „hinduisierten“ Provinzen, wo die bodenständige „Gegenoffensive“ der alten, unterdrückten Religionen und die Verehrung von Lokalgottheiten am stärksten ist. Die Einflüsse nicht-arischer Völker und der Bön-Schamanen in Tibet , von gnostischen Elemente aus dem Iran sind ebenso wenig auszuschließen wie der Einfluss des chinesischen Taoismus.
Tantra hat wiederum viele Religionen beeinflusst: man findet in Indien und anderen asiatischen Ländern tantrische „Interpretationen“ des Shivaismus, Buddhismus, Vishnuismus , der Jaina- und der Sikh-Religion in Indien und des Taoismus in China. Sogar Teile des moslemischen Sufismus sind von Tantra inspiriert, gewisse Elemente findet man auch bei den nestorianischen Christen in Indien. Tantra scheint somit eine viel breitere und tiefere Strömung der asiatischen Spiritualität darzustellen, als das auf den ersten Blick ersichtlich ist.

Tantra und die vorarische Kultur

Tantrische Symbole wie das Phallussymbol, den so genannten Lingam, archaische Muttergottheiten und Hinweise auf magische Askese findet man schon in der Induskultur

Mircea Eliade, der große Religionsphilosoph und Kenner des Yoga und Tantra, schreibt: "Tantra ist eine Synthese vieler Elemente aus dem indischen und asiatischen Raum. Darunter fallen viele volkstümliche indische Elemente wie rituelle Magie und Mantras, Elemente aus der vorarischen indischen Hochkultur und auch Elemente aus dem Schamanismus der Bergregionen."

Tantra und Schamanismus

Es lassen sich deutliche Parallelen zwischen Schamanismus und Tantra finden: im tibetischen Tantra gibt es z.B. das Chöd-Ritual, in dem der Praktizierende wilde Tiere und Dämonen zum Festmahl einlädt und sich selbst symbolisch opfert. Durch die Macht der Meditation erscheint im Geist eine Göttin, die ihn enthauptet, woraufhin die Dämonen und Tiere sein Fleisch essen und sein Blut trinken. Dies entspricht stark dem Initiationsritual der sibirischen Schamanen. Auch weitere Teile des Rituals, wie z.B. sich selbst als Skelett zu sehen, sind typisch schamanische Übungen.
Weitere Parallelen sind der mystische Flug, in dem der Praktizierende den Körper verlässt, die Meisterung des Feuers, wie das im Tummo-Ritual der Tibeter geschieht, oder das Sehen des inneren Lichts, was nach Eliade genau einer Initiationsstufe des Inuit-Schamanismus entspricht.
Ich möchte hier auch auf die Verwendung und Nutzung entheogener Pflanzen hingewiesen, die offenbar eine wichtige Rolle im Schamanismus, aber auch im Tantra zu spielen scheinen.

Nach Christian Rätsch besteht der Hauptunterschied darin, dass sich Schamanen hauptsächlich in den Dienst der anderen stellen, um zu heilen oder Nutzen zu bringen, Tantrikas hingegen nutzen die Techniken, um selbst zu höheren spirituellen Zuständen zu gelangen.

Veda und Tantra

Bei genauer Kenntnis der Schriften und der Geschichte lässt sich nicht leugnen, dass ein Großteil der tantrischen Rituale vom Rückbezug auf den vedischen Opferkult inspiriert sind bzw. sich als eine Alternative zu diesem präsentieren. (AN) Tantra nutzt die im neuen zeitalter des „Kali-Yuga“ unpraktikabel gewordenen vedischen Rituale, parodiert sie manchmal und füllt sie mit neuen Inhalten. Die Unterscheidungen nach Kaste und Geschlecht sind im Tantra aufgehoben.
Die tantrischen Schriften beziehen sich immer wieder auf die Veden und sind ihnen gegenüber nicht feindlich, aber schon öfters „respektlos“.

Ab dem 13. Jahrhundert hat sich der asketische Strom in der indischen Spiritualität wieder mehr durchgesetzt, und die nicht-asketische eher okkulte, und mystische Praxis der Tantras wurde als „ketzerisch“ und „gefährlich“ angesehen. Dadurch geriet Tantra in Indien immer mehr in den Untergrund. 

Hinduistisch oder buddhistisch?

Es gibt einen Gelehrtenstreit darüber, ob das Hindu-Tantra oder das buddhistische zuerst da war, oder ob sich gar beide Richtungen aus einer heidnischen und mittlerweile verschütteten Urquelle speisen.
Diese Frage scheint erstmal für den unbefangenen westlichen Betrachter nicht wichtig zu sein. Die traditionellen hinduistischen bzw. buddhistischen Tantriker scheinen die Bedeutung der jeweils anderen Schule jedoch systematisch herunterzuspielen.

Die älteren erhaltenen Schriften sind buddhistisch, viele der Elemente und Rituale wie Mantras, Verehrung der Göttin, Sprachmystik, Sexualsymbolik und yogische Elemente sind jedoch eindeutig hinduistischen Ursprungs.
Die beiden Traditionen haben sich mehrere Jahrhunderte auf demselben Raum bewegt und sich gegenseitig beeinflusst. Der Hinduismus und der Buddhismus hatten sich gegen Mitte des ersten Jahrtausend u.Z. so angenähert und vermischt, dass manche tantrischen Meister, Siddhas genannt, von beiden Religionen anerkannt werden.

Viele Forscher sind der Ansicht, dass sich die Tantras auf einem gemeinsamen Substrat gründen, das weder buddhistisch noch hinduistisch ist „Die Tantras sind auf einem brahmanisch-hinduistisch geprägten vagen Gewässer volksnaher und z.T. auch sehr alter Elementen durchsetzten Religiosität sowie hinduistischer esoterischer Kulte gewachsen und hatten diese dann in den ersten Jahrhunderten u.Z. in das Bett einer zuerst noch esoterischen neuen Religionsströmung mit einmal mehr hinduistischem und einmal mehr buddhistischem Gepräge gegossen. Der Strom schwillt gegen Ende des 1. Jt. immer weiter an, bis Jahrhunderte später von Hinduismus zu sprechen beinahe schon Tantrismus bedeutet, und vom Buddhismus Tibets zu sprechen ebenfalls Tantrismus bedeutet.“ (Jyotishman Dam)

Während das buddhistische Tantra in Tibet und Bhutan zur zentralen religiösen Lehre geworden ist, blieb Tantra im Hinduismus immer eine Geheimlehre Auserwählter.

Ab dem 7. Jh. u.Z. befindet sich der Buddhismus in Indien wieder am Schwinden.
Ab dem 9.-10. Jh. findet eine Brahmanisierung des Hindu-Tantra statt. Tantra wird in den klassischen Hinduismus integriert, wofür z.B. exemplarisch die Trika-Schule steht.

Zusammenfassung dieses Kapitels:
Tantra ist ca. im 5 Jh. u.Z. in Indien aufgetaucht und breitete sich schnell aus. Seine Blütezeit hatte es bis ca. dem 13. Jh. Die Ursprünge des Tantra zeigen in vor-arische Zeiten. Schanische, iranisch-gnostische und chinesische Einflüsse sind nicht auszuschließen.
Die beiden wichtigsten tantrischen Traditionen sind die hinduistische und die buddhistische. Sie scheinen einen gemeinsamen Ursprung zu haben: welche älter ist, ist nicht genau festzustellen. In der heutigen Zeit haben sich die Traditionen wieder mehr voneinander entfernt.
Im Hindu-Tantra gibt es eine shivaitische, eine shaktistische und eine vishnuitische Richtung; die ersten beiden haben einander stark beeinflusst.
Das buddhistische Tantra ist bis heute erfolgreich in Tibet, Bhutan, Ladakh, Sikkim und der Mongolei. Es wird in verschiedenen Schulen auf sehr traditionelle Weise gelehrt.
Tantra teilt sich nach Ansicht der meisten Beobachter auf in einen linken Zweig, der Sexualität und ungezügeltes Verhalten akzeptiert, und einen rechten, der eher strenge Frömmigkeit und sexuelle Askese in den Vordergrund rückt.