Richtungen des Tantra

 Im Folgenden versuche ich, die verschiedenen Schulen und Richtungen zusammenzufassen und übersichtlich zu gliedern. Ich bin mir dabei bewusst, dass dies bei der Vielfalt und Komplexität der Materie nicht vollständig und fehlerfrei möglich ist.

Zuerst muss man die beiden wichtigsten Strömungen, das hinduistische und das buddhistische Tantra, voneinander abgrenzen. Obwohl sich die beiden Richtungen nicht unähnlich sind, gibt es auch bedeutende Unterschiede.
Sie scheinen sich seit einigen Jahrhunderten in getrennten Kontexten weiter zu entwickeln, so dass sie sich mehr und mehr voneinander entfernt haben.

1. Geschichtliche Unterschiede 
Im Buddhismus ist durch die strenge jahrtausendealte monastische Tradition die Überlieferung viel klarer, systematischer und strukturierter. Andererseits enthält die Mönchstradition auch viel Ballast und Zusätze zu den ursprünglichen esoterischen Tantralehren.
Die Hindu-Traditionen sind nicht so ungebrochen und haben sich über die Jahrhunderte stärker zersplittert.

2. Ziel der Praxis
Geht es im Hinduismus um die Verwirklichung des Selbst, so ist es im Buddhismus die Leerheit oder das Nicht-Selbst, das Ziel der Praxis ist. Die Buddhisten sind der Auffassung, die Realität existiere nur im Geist. Für das Hindu-Tantra ist die Welt, wie wir sie wahrnehmen, einerseits real, andererseits aber unvollständig.
Möglicherweise handelt es sich jedoch nur um unterschiedliche Aspekte desselben freien, nicht-dualen Zustand des Einsseins, meint der hinduistische und dem tibetischen Buddhismus nahe stehende französische Tantra-Meister Daniel Odier.

3. Männlich-weiblich
Während im Hinduismus das männliche Prinzip die passive und kontemplative Polarität verkörpert (Shiva) und das weiblich die aktive und dynamische (Shakti), ist es beim Buddhismus umgekehrt: das männliche Prinzip ist die dynamische Methode (upaya), das weibliche die kontemplative Weisheit (prajna).
In der Realität der Praxis erscheint das oft komplexer, z.B. die Belegungen der Nadis mit männlich-weiblich, Sonne und Mond und die Tatsache, dass es auch im Buddhismus außer den Weisheitsfiguren wie etwa Prajnaparamita auch dynamische, shakti-artige Frauen gibt, die als Dakinis bekannt sind und deren Ähnlichkeit mit den Formen der Shaktis kaum zu übersehen sind (bis hin zu Details wie Kreis der acht Dakinis /acht Shaktis usw. oder die gemeinsame Bezeichnung Gauri)

4. Interessen 
Tendenziell zeigt das hinduistische Tantra ein höheres Interesse an Ontologie und metaphysischer Wissenschaft,(Astrologie, Kosmologie, Alchimie) etc., während es im buddhistischen Tantra mehr um die Ebenen des Geistes und um die Befreiung vom Leiden geht.  Das sind allerdings nur Tendenzen und es gibt viele Ausnahmen, z.B. das buddhistische Kalachakra-Tantra.


Einteilungen des Hindu-Tantra

Religionswissenschaftlich stellt hinduistisches Tantra einen der unorthodoxen indischen Wege dar im Gegensatz zu den sechs orthodoxen Systemen wie Vedanta, Samkhya und Yoga. 

Man kann die verschiedenen tantrischen Schulen und Praktiken nach unterschiedlichen Gesichtspunkten einteilen. Die naheliegendste Einteilung ist nach der Hauptgottheit, die verehrt wird.

1. Die Shivaiten, auch Shaivas genannt, sind die größte und wichtigste Gruppe des hinduistischen Tantra. Von hier stammen die meisten Gedanken und praktischen Anleitungen. Eine genaue und glasklare Abgrenzung zum Shaktismus ist nicht möglich. Der Shivaismus breitete sich von Kaschmir nach Bengalen aus, dort begegneten die Yogis dem Shakta-Kult und es kam zu Vermischungen.

Eine der wichtigsten shivaitische Schule ist die der Kaulas.
Bei den Kaulas wird besondere Betonung auf die Kula, die Familie, gelegt,als die Ureinheit, die noch über Shiva steht. Das Ziel ist, die Einheit mit dem Universellen Sein zu erlangen.
Die wichtigste Schrift der Kaulas ist das Kularnava-Tantra aus dem 12/13 Jh.
Für die Kaulas ist ein anstrenungsloser, nicht-asketischer und experimenteller Zugang zum Spirituellen typisch. Besondere Betonung legen die Kaulas auf die Verehrung der Göttin und auf geheime sexuelle Praktiken.
Die Gruppierung der Kaulas kann auch als Geburtsstätte des tantrischen Hatha-Yoga gelten.

Die Schule des Trika bedient sich einer Metaphysik der Trinitäten. Die drei Energien oder Shaktis sind: Para- die höchste, Transzendente, Parapara – steht für Transzendenz/Immanenz und Apara, die für weltliche Immanenz steht. Die erste Göttin ist gütig, die anderen beiden haben eine zornvolle Form – letztlich sind sie aber nicht voneinander getrennt
Ebenso existiert die Dreiheit von Individuum, Energie (Shakti) und Urgrund (Shiva), wie auch eine Trinität von Erkennendem, dem Objekt der Erkenntnis und dem Mittel der Erkenntnis, z.B. den Sinnen.
Die Nichtdualität ist die Einheit, die die Vielheit transzendiert. Auf welche Weise sich das oberste Prinzip, Shiva, immer weiter in die materielle Welt entfaltet, wird im Trika ausführlich und genau beschrieben. Von allen Hindu-Tantra-Systemen hat Trika die umfassendste Philosophie geschaffen.

Eine weitere, heute weniger bekannte Richtung ist die Krama-Tradition. Sie kann als eine sehr ursprüngliche tantrische Richtung aufgefasst werden, die noch tief in der Spiritualität der Ureinwohner gegründet ist. Über sie ist vergleichsweise wenig bekannt.

2. Die Shakta-Schulen verehren in erster Reihe Shakti als die Große Göttin und Shiva nur als ihren Gefährten. Sie finden sich in Orissa, Bengalen und Assam, wo sie sich zum Teil mit den Kaula-Schulen vermischt haben.
Die Hauptpraxis der Shaktas ist der Aufstieg der Kundalini durch die Praxis von Mantra, Yantra und die Arbeit mit dem Chakra-System.
Während die Schulen des Shri-Kula mit „linken“ Ritualen vorsichtig sind, ist bei den Sekten der Kali-Kula solche Rituale üblich.

3. Die Vaishnava-Schulen in Bengalen und Südindien sind weniger „tantrisch“ als die Shiva-Schulen, und pflegen einen tantrisch inspirierten Bhakti-Kult.
Eine Ausnahme bildet die Pancharatna-Geheimlehre der Fünf Nächte, die mystische Buchstaben, Meditation, Mantra und Selbstaufgabe betont.

4. Überliefert sind noch die Schulen der Ganapatyas (Ganesha-Verehrer) und Sauras (verehren den Sonnengott), die heute nicht mehr existieren.

Einteilung nach Methode: Rechts- und linkshändiges Tantra

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich zwei tantrische Schulen herausgebildet.
1. der ungeläuterte, angeblich „gefahrvolle“ Weg des Vamachara, der "Weg der Linken Hand“ der sexuelle Praxis und leidenschfatlichen Verghalten integriert
2. der Dakshinachara oder Weg der rechten Hand, mit eher läuternden Ritualen und strenger Disziplin, die absolute Hingabe an die göttliche Mutter in ihren mannigfachen Formen fordert.
Vor allem in der Shakta-Tradition spricht man von diesen beiden Formen. Die Idee des rechtshändigen Tantra, die sich gewissermaßen auf ethisches Verhalten stützt und provokante, die moralischen Richtlinien außer Acht lassende Rituale weglässt, scheint jedoch eine spätere Entwicklung zu sein, die auf eine zunehmende Assimiliation des Tantra im Hinduismus hinweist. So gilt der Asket Lakshmidhara, der im 16.Jh. lebte, als Reformer und wesentlicher Vertreter des rechtshändigen Tantra. Auch die Entwicklung des Hatha-Yoga scheint im Zusammenhang mit der rechtshändigen Trend im Tantra zu stehen.

Der linke Weg
In Indien wird die Linke Hand mit Unreinheit und Unglück, die rechte hingegen mit Reinheit und Segen assoziiert. So ist der traditionelle Begriff vama-marga oder vamachara bei den meisten Indern negativ konnotiert als irgendwas „Sinistres“, Zwielichtiges. Für die Änhänger dieser Schulen ist die Bedeutung jedoch positiv, weil sie entdeckt haben, wie sehr die dunklen Schattenaspekte unsere Existenz bestimmen. Wenn man sich rituell und existenziell in diese Bereiche vorwagt, die von normalen Menschen gefürchtet werden, kann Licht ins Dunkel gebracht werden, die unterdrückten Aspekte des Daseins werden wieder integriert. Diese Bereiche sind Dinge wie Tod, Gewalt, ekelerregende Substanzen und vor allem die verschiedenen Aspekte der Sexualität. Daher ist dieser Weg besonders energiegeladen und führt schnell zu intensiven Erkenntnissen.

Nach Jochen Kirchhoff sollte man beim linkshändigen Tantra zwischen seiner schwachen Form, in dem die Sexualität zwar anerkannt und praktiziert wird, aber letztlich doch zum Zwecke ihrer völligen Überwindung, und andererseits der starken Form, in der die Sexualität selbst als Mysterium verehrt und ausgeübt wird, unterscheiden.
In der schwachen Form droht die Gefahr, dass der Mann die ihm überlegene Sexualkraft des Weiblichen nur benutzt, um sie als Treibstoff für seine spirituellen Experimente zu gebrauchen, ohne ein echtes Interesse an der Frau oder an der Lust an sich.

Richtungen des buddhistischen Tantra

Historisch gesehen haben sich 4 Schulen im buddhistischen Tantra bis zur heutigen Zeit gehalten, in den letzten Jahren wird auch die ursprünglich schamanische Bön-Schule dazu gezählt

1. Nyingma
die alte Schule, geht auf die zwar historisch, aber inzwischen halbmythologische Gründerfigur Padmasambhava (Guru Rinpoche) zurück, der im 8.Jh. gelebt haben soll und nach Ansicht der Nyingmaas Tantra nach Tibet gebracht hat.
Die Nyingmas leben yogisch,  d.h sie praktizieren mit Gefährtin, und pflegen ihr Haar lang und im Zopf zu tragen. Es gibt auch Nyingma-Mönche, aber seltener als in anderen Traditionen. Die Nyingmas neigen zu unkonventioneller Methodik.
Ihre höchste Lehre wird Ati-Yoga, tibet. Dzogchen genannt.

2. Sakya
die Sakya-Linie ist von den neueren Schulen die älteste und hatte ihre Blütezeit im 13 Jh., als sie die dominierende Schule in Tibet war. Heute haben sich die Sakyas gut reorganisiert und haben z.B. eine große Gemeinde in Kanada.

3. Kagyü
die Kagyüs sind ebenfalls zur einem gewissen Teil yogisch und unkonventionell. Im Westen sind sie z.Z. die erfolgreichste Schule, z.T. auch durch geschicktes Auftreten. Die Kagyü-Doktrinen wurden von Gampopa aus der Übertragung der Mahasiddhas Tilopa-Naropa-Marpa-Milarepa und der monastischen Kadampa-Tradition entwickelt. Es gibt heute noch mehrere Kagyü-Schulen, deren bekannteste die  Karma-Kagyü-Schule unter der Leitung des Karmapa ist.

4. Gelug
Die Gelugpa-Schule wurde erst im 15. Jh. Vom großen Yogi und Reformer Tsongkhapa gegründet, der ein strengeres monastisches System der Einkehr und Gelehrsamkeit als Gegenbewegung gegen einen bestimmten Zerfall der Tradition erreichtete. Im Streit der Schulen konnten die Gelugs sich in den kommenden Jahrhundertten durchsetzen und die Führung im tibetischen Buddhismus übernehmen. Der Dalai-Lama wird immer aus der Gelugpa-Tradition gewählt.

5. Bön
ist ein ganz altes schamanisches System, das ursprünglich im Widerstreit zum Buddhismus stand. Mittlerweile, seit der Anerkennung durch den Dalai Lama 1977, ist es jedoch in das Dach der Buddhisten integriert.

6. Sonstige
Wichtige ausgestorbene Traditionen waren die äußerst rigide und mönchische Kadampa-Tradition sowie die vom 5. Dalai-Lama als Herätiker erklärten Jonangpas.
Mittlerweile gibt es jedoch wieder einige Jonangs und, als konservative Abspaltung der Gelug-Schule, eine Neue Kadampa-Tradition.

Entwicklungsphasen des tantrischen Buddhismus

Rob Linrothe ist ein Autor, der versucht, die Phasen des tibetischen Buddhismus anhand der ikonographischen Entwicklung der Klostermalereien nachzuzeichnen.
1. Phase (5.-7.Jh.)
Im buddhistischen Kontext erscheinen viele Gottheiten und Mandalas, Mantra vor allem zu magischen Zwecken
Buddhas und Boddhisattvas spielen die wichtigen Rollen.
Zornvolle Gottheiten sind vor allem Helfer der anderen Götter, z.B. Schützer
zuerst gab es die Kriya- und Carya-Tantras, die man als Sammlung von Zaubersprüchen verstehen kann
2. Phase (7.-8.Jh.)
Das Mandala wird zum Symbolraum für mahayanische Themen wie Leerheit, Weisheit
in die Welt der Gottheiten werden Göttinnen, auch aus dem Hinduismus, integriert
Zornvolle Gottheiten nehen an Bedeutung zu und stehen gleichberechtigt neben den Buddhas
Das Streben nach Befreiung und Erwachen in diesem Leben steht im Vordergrund – Mittel sind Meditation, Einweihung und Ritual
Hier entstehen die Yoga-Tantras und das Guhyasamaja-Tantra
3. Phase (8.-11.Jh.)
offene Einbeziehung der Sexualität in die Praxis, auch von aggressiven Tendenzen
Einweihungen im Zusammenhang mit sexuellen Ritualen
- weibliche und zornvolle Gottheiten werden noch bedeutender
Phase der großen Anuttara-Tantras
4. Phase (11.-13.Jh.)
- Zum einen: Entwicklung immer komplexerer magischer Systeme, Einbeziehung von Astrologie und differenzierter Rituale (Kalachakra-System)
- andererseits: Sahaja-Yana, Weg der Spontaneität, der gerade die zu große Systematisierung ablehnt

Die vier Tantra-Formen des Buddhismus
Die Tantras wurden vor allem in den Grenzländern Indiens geschaffen. Ursprünglich kommen die Tantras in vier Formen vor, die sich an die Qualitäten der vier Kasten wenden:
Die sehr liturgischen Kriya-Tantras für die Brahmanen.
Die Carya-Tantras für die Vornehmen, in denen sich Hochachtung für die Zeremonie mit Nachdenklichkeit verbindet.
Die Yoga-Tantras gelten für die Mächtigen, die sich ungern von Besitztümern trennen, hier stehen pompöse und feierliche Mandalas voll sinnlicher Fülle zur Verfügung.
Schließlich die Anuttara-Tantras für Menschen, die keinen Unterschied von gut und böse kennen, am meisten sündigen und ein unreines Leben führen. Die Erlösung wird hier auf der „Schuld“ aufgebaut, mit der sie sich befleckt haben.
Auch hier kommt es zu einer paradoxen Verdrehung, wie sie für die Tantras typisch ist: die höchsten und spektakulärsten Tantras der höchsten esoterischen Feinheit wendet sich gerade an die Menschen von ethischer Zweideutigkeit.

Die fünf Buddha-Familien
Eine andere Einteilung, wer für welches Tantra geeignet ist, ist die in Buddha-Familien. Durch ein Orakel, der Blumenwurf und Traum beinhaltet, soll die Zugehörigkeit des Initianden festgestellt werden, dies beinhaltet sowohl das vorherrschende Geistesgift, die Haupt-Identifizierung, aber auch die Stärkern und die Methoden der Transzendenz.
Auch aufgrund bestimmter psychologischer und geistiger Faktoren wird das Mandala ausgewählt, z.B. aufgrund besonders starker vorherrschender Emotionen, besonderer Intelligenz (oder Einfältigkeit), besonderer Detailliebe oder Vorstellungskraft, aber auch der emotionalen Vorliebe für eine bestimmte Gottheit. Es ist Sache des Meisters, zu entscheiden, welches Mandala für welchen Schüler am geeignetsten ist. Diese Entscheidung kann im Laufe der Schülerschaft auch noch geändert werden.