Ritual

Wenn die Sadhana, die tägliche und regelmäßige Übung, den einen Pfeiler der tantrischen Praxis darstellt, so ist das Ritual der andere. Wo die Praxis den Menschen ganzheitlich schult und auf die höheren Erfahrungen vorbereitet, da ist das tantrische Ritual die Brücke, die das Menschliche mit dem Heiligen verbindet.

Die Rituale des Tantra sind sakramentale Handlungen und haben die Kraft, Veränderungen im Bewusstsein hervorzurufen.
Man kann Tantra-Rituale von außen beobachten, analysieren und deuten, man kommt mit einer analytischen Haltung aber nicht zum Kern; nötig ist es vielmehr, sich ganz hineinzubegeben.

Tantra-Ritual

Im Tantra sollen Rituale ermöglichen, den Sinn der Lehren auch körperlich-emotional zu erfassen.  Beim einzelnen soll das Ritual eine starke Bewusstseinserweiterung bezwecken und überbewusste Kräfte bei den Teilnehmern wachrufen. Im Optimalfall wird diese Erfahrung geankert, so dass diese Erweiterung auch in den Alltag mitgenommen werden kann.

Im Tantra werden die Energien von Gottheiten angerufen. Die Gottheiten kann man als Verkörperungen bestimmter Qualitäten der Lebens und Menschseins begreifen, z.B. Lakshmi für Fülle, Rama für Ordnung und Rechtschaffenheit, Krishna für die alles durchdringende Liebe etc.
Wenn in anderen Traditionen diese Götter nur angebetet werden, so ist es im Tantra üblich, in der Vorstellung selbst die Form dieser Götter anzunehmen und sich auf diese Weise zu der Reinform dieser Qualitäten selbst zu werden. Die anzubetende Gottheit ist also eine Art Hilfsmittel, um die Psyche besonders stark mit einer bestimmten Kraft oder Eigenschaft aufzuladen.

Diese Gottheiten werden angerufen und durch bestimmte Gesten und Formeln eingeladen, in unseren physischen Körper zu gelangen und dort für die Dauer des Rituals zu hausen. Vorher ist es sinnvoll, sich selbst so leer wie möglich von unseren üblichen Gedanken, Gefühlen und Identifikationen zu machen, d.h. die Anhaftung an das Ego vorübergehend zu lösen.
Typisch für den tantrischen Ansatz ist die Anrufung der Shakti als das weibliche Prinzip der Kraft und Energie, die sowohl im ganzen Universum als auch in unserem Inneren ist. Ihr männlicher Gegenpart ist Shiva, der im tantrischen Kontext als das Eine Bewusstsein, das überall existiert und sich in allen Phänomenen manifestiert, anzusehen ist. Er ist untrennbar mit Shakti verbunden, sie sind eins. In der sexuellen Vereinigung von Mann und Frau wird diese Einheit zeremoniell wiederhergestellt.

Es gibt tantrische Rituale, die Anbetung der Göttin, Mantras, rituelle Gesten und Meditation beinhalten und die für alle geeignet sind. In fortgeschrittenen Stadien wird die Sexualität dazu genommen und genutzt, um die rituelle Trance zu verstärken. Bei diesen Ritualen sollen nur so genannte Helden dabei sein, die einen ausgesprochen integren Charakter und hervorragende Eigenschaften besitzen.
Der Sex im Ritual soll kein lustzentrierter Selbstzweck sein, vielmehr soll die Lust dazu genutzt werden, starke Kräfte freizusetzen und das Bewusstsein besonders weit zu machen. Um diesen Aspekt noch stärker zu forcieren, haben die traditionellen tantrischen Yogis auch verschiedenen Tabus der hinduistischen Kultur ins Ritual eingebaut, so den Genuss von Fleisch, Fisch und Alkohol.

Andere wichtige Elemente, die die Trance verstärken, ist der zeremoniell gestufte Ablauf der Rituale und die Gebete und Mantras, die rezitiert werden. Manchmal wird auch mit zeremoniellen Substanzen gearbeitet, die bewusstseinserweiternd sind, wie Räucherwerk und berauschende Getränke. Auch der ästhetische Rahmen eines Rituals hat erheblichen Einfluss und sollte daher nicht vernachlässigt werden. Am besten ist es, wenn alle Teilnehmer den Ritualrahmen gemeinsam schaffen und sich so schon in eine Art Vortrance begeben.

Nach dem Ritual ist im allgemeinen die Verbindung zum Weg wiederhergestellt, man weiß worums es geht, und ein gewisses Bewusstsein der eigenen Göttlichkeit kann in den Alltag mitgenommen werden. Auch die Verbindung zur Natur und zu den Elementen wird hinterher stärker gefühlt. Oft werden im Ritual auch Energiekanäle geöffnet, die offen bleiben. Mit anderen ein starkes tantrische Ritual in der Gruppe zu machen, schafft eine Nähe, Intimität und Freundschaft, die in vielen Fällen darüber hinaus bestehen bleibt.

Ein Tantra-Ritual kann auch eine hervorragende Übung sein, um Grenzen zu überschreiten, und z.B. Sexualität zu erfahren auch über die engen Grenzen einer Zweierbeziehung hinaus. Der magische Schutzraum, das rituelle Ablegen der alten Identität, der zeremoniell strikte Ablauf mit klarem Anfang und Ende und die Möglichkeit der Reflexion an einem späteren Zeitpunkt eröffnet da neue Perspektiven. So lässt sich ein Tantra-Ritual auch als Grenzerweiterung, therapeutische Konfrontation und Herausforderung betrachten, die, einmal gemeistert, den eigenen Standort verschieben kann.

Durch mehrfache Wiederholung lernt auch der einzelne, sich mit den Ritualen anzufreunden und sich darin heimisch zu fühlen. Ähnliche wie das Laufenlernen für ein Kleinkind oder das Autofahren für einen Anfänger zuerst sehr komplex erscheinen und dann doch zu einer Selbstverständlichkeit werden, ist auch die Beherrschung der verschiedenen Rituale für einen Tantrika ein Weg zu immer höherer Kompetenz.
Konfrontierende und unangenehme Gefühle, die ein Ritual mitunter auch hochbringt, können durch eine gute Nachbereitung betrachtet und angegangen werden. Das Tantra-Ritual kann also durchaus auch als Therapiebaustein gesehen werden.
Rituale auf einem Level, die nur noch eine kleine Herausforderung darstellen, werden von Teilnehmern dann auch als Fest angesehen, als Meilensteine auf dem Weg, als Methode, neuen Kontakt zum Pfad aufzunehmen. Als solches ist das Tantra-Ritual auch im gewissem Umfang die Krönung des Tantra-Wegs.

Stufen eines Rituals

Zum Ritual gehören Schritte wie magischer Schutz, hohe Konzentration, das Ablegen der alten Identität, Invokation und Vergegenwärtigung der Götter, Herbeiführen der Trance, erreichen hoher Bewusstseinszustände und schließlich das bewusste „Runterfahren“, Widmung und Glücksgebete sowie der Abschluss.

Nach Ajit Mookerjee folgen die Rituale in der Regel folgenden Stufen:

1.Reinigung und Heiligung
Durch ein bestimmtes Training wird der Körper geschult, das „träge“ Stadium zu verlassen und nach dem Bild der Gottheit gereinigt und geheiligt zu werden; dazu werden vor allem Elemente wie Nyasa, und Bhuta-Shuddhi benutzt. Die gefühlte Umwandlung des grobstofflichen in einen feinstofflichen Körper dient der Beseitigung von Hindernissen.
2. Identifikation und Verinnerlichung
Hier werden Methoden wie Mudra, Meditation, Visualisierung, Japa und Pranayama genutzt. Der Sadhaka macht die Erfahrung, als Eingeweihter eins mit dem Objekt der Hingabe zu werden. Das Objekt der Anbetung wird als Teil des Selbst behandelt.
3. Harmonie und Einheit
Die ungerichteten Energien werden zentriert und sollen im Zentralkanal zusammenschmelzen, bis ein Gleichgewicht zwischen den Extremen erreicht ist.
4. Verschmelzen mit der Einheit
Das letztliche Ziel des Rituals ist ein Erreichen des Zustands des Unteilbaren und Ganzheitlichen.

Voraussetzungen für linkshändige Rituale 

In den Tantras stehen des öfteren Voraussetzungen, die zur Zulassung zu einem solchen Ritual notwenig sind. Die Eigenschaften des Viras und der Ritualshakti sind im Kapitel: „Der Weg des Helden“ beschrieben.

Die Rituale sind nur mit einer reinen und klaren Motivation wirkungsvoll. Die Motivation muss spirituell sein, um anderen Wesen zum Nutzen zu sein – das Göttliche zu erforschen, um mit ihm eins zu werden.

Nach der Ansicht von Swami Janakananda sollten die Teilnehmer Erfahrung mit Yoga und Meditation haben, um z.B. Impotenz, Frigidität und Angst vorzubeugen. Feinfühligkeit und die Fähigkeit zum intensiven Erleben sind ebenso wichtig wie das sichere Ruhen in sich selbst. Durch stabile Praxis sollten die Partner in der Lage sein, frei von Furcht, Befangenheit und Widerstand ins Ritual zu gehen.
Die Beherrschung komplexer Asanas, Pranayamas und Mudras, die die Atem- und Samenkontrolle ermöglichen sollen, wird dabei auf beiden Seiten vorausgesetzt. Das Maithuna ist die Vollendung eines schwierigen Lernprozesses 
Es ist gut, einige Tage vor dem Ritual enthaltsam zu leben, um einen starken Trieb aufzubauen, der die Grundlage für die Umwandlung der Energie und damit für die Kraft des Rituals darstellt.
Als Ort des Rituals ist ein einsamer Ort, frei von Schmutz und Lärm, auszuwählen. Tatsächlich finden Rituale auch oft im Haus des Guru oder in geschlossenen Räumen statt.

In der tantrischen Tradition lassen sich verschiedene Formen sexueller Rituale vorfinden. Die meisten von ihnen werden nur geheim vermittelt und dringen verschleiert an die Öffentlichkeit. Ich habe mich längere zeit mit der Erforschung dieser Rituale beschäftigt und , möchte nun einige etwas ausführlicher darstellen, soweit mir Informationen zu Verfügung stehen. Ihre Länge und Vielschichtigkeit wird Anfänger mit Sicherheit davon abhalten, sie nach meinen Beschreibungen auszuführen. Wie weiter oben schon erwähnt, erscheint es auch nicht sehr sinnvoll, diese Rituale zu praktizieren, ohne die nötigen Voraussetzungen zu erfüllen. Das tun in unserer Kultur nur die wenigsten. Wer jedoch den unwiderstehlichen Drang verspürt, die Wirkung dieser Rituale zu erfahren, für den werden sich auf wunderbare Weise Wege auftun, die ihn früher oder später zu diesen Erfahrungen führen werden.
Wichtig ist mir, dass ersichtlich wird, dass es sich keinesfalls um eine hedonistische Aktivität handelt, sondern um eine tiefgehende religiöse und vielleicht auch magische Zeremonie, die viel Disziplin, Geduld und innere Haltung erfordert.