Der Weg des Helden

 „Ich folge dem Kult, in dem es Freude an Wein, Fisch, Fleisch, Körnern und der Frau gibt. In der Göttin suche ich Zuflucht. Ich bin der Traditionsreihe der Gurus ergeben. Ich bin Shiva, der Schreckliche, der Transzendentale. Sie ist Shakti, die Sinnliche, die Befreierin.„ (Rudrayamala, nach Nik Douglas)

Die meisten Tantra-Schriften unterscheiden die Schüler je nach Eignung, dem so genannten Adhikara. Die geläufigste Unterscheidung ist die zwischen Pashu, wörtlich Tier, dem konventionellen Schüler, der seinen Leidenschaften unterworfen ist, dem Vira, wörtlich Held, der in der Lage ist, sich über das Gewöhnliche zu erheben und nicht mehr von Instinkten, Emotionen und Launen getrieben ist. Ein dritter Typus ist der Divya, der Gottmensch, der in seiner Entwicklung noch weiter fortgeschritten, wie ein göttliches Wesen unter den Menschen weilt.

Für den Vira, den Helden, einen Typus, der im Tantra immer wieder erwähnt wird und der für den Tantra-Kult von zentraler Bedeutung ist, gelten andere moralische Regeln, weil er schon bewiesen hat, dass er zu einer autonomen Moral in der Lage ist.
Es gibt traditionelle Vorschriften, welche Eigenschaften ein Vira haben soll, um vom Guru zu linkshändigen Ritualen zugelassen zu werden. Das Kularnava-Tantra, die wichtigste Schrift der Kaula-Tradition, erwähnt, man sollte frei von acht Dingen sein: Hass, Zweifel, Furcht, Schamgefühl, üble Nachrede, Arroganz über die eigene Herkunft, Konformität und Arroganz bezüglich der Kastenzugehörigkeit.
Woodroffe erwähnt folgende Eigenschaften: der Vira hat einen reinen Geist, starke Selbstkontrolle, möchte stets allen Gutes erweisen und ist frei von dualistischen Vorstellungen.
Auch die Frau im Ritual braucht bestimmte Voraussetzungen, sie sollte gesund sein, große Augen haben, volle Brüste, weiche Haut, eine schlanke Taille und breite Hüften.

Als Vira legt man besonders Wert auf die starke Entwicklung der Willenskraft. Beim Helden herrscht die Rajas-Energie vor.
Der Weg des Helden ist passend für unser Zeitalter, das Kali-Yuga, in dem die Rajas-Energie sehr stark ist.
Der klassische Tantra-Meister Abhinavagupta betont die Wichtigkeit von Leidenschaft und Virilität für den spirituellen Weg und macht sich über dünnblütige Yogis lustig, die alles ohne Leidenschaft betrachten und ihre Lebenstriebe abgetötet haben.
Lilian Silburn, selbst Schülerin des kaschmirischen Tantra-Pfades, beschreibt den Vira wie folgt: Der Vira oder Siddha ist jemand, der seine Sinne und seinen Geist beherrscht. Er hat Zweifel und Begrenzungen überwunden, ein lauteres Herz, verzichtet auf alles Weltliche und handelt ohne Bindung an Partner, Begierde und Genuss. Er widmet sich nur dem inneren Leben, hat jedoch einen abenteuerlichen und wagemutigen Geist.

In der Tradition ist es der männliche oder weibliche Guru, der die Schüler nach ihrem Adhikara aussucht und sie einweiht. Man kann davon ausgehen, dass Tantra-Schüler ein jahrelanges Training in Yoga, Pranayama und Verehrungs-Praktiken durchlaufen, bis sie zu den sexuellen Ritualen zugelassen werden. Dies wird in den Texten nur oberflächlich beschrieben und ist Teil der Mund-zu-Ohr-Unterweisung.

Das Ritual der fünf M
Die üblichen sozial-ethischen Wertkategorien sind für einen Tantriker außer Kraft.  Das drückt sich besonders im Vira-Ritual aus.
Im linkshändigen Tantra ist das Vira-Ritual das eigentliche und zentrale Ritual. An Chakrapujas, dem Kreis der Tantriker, in dem „geheime“ Rituale durchgeführt werden, dürfen nur Viras teilnehmen.

In den Tantras ist immer wieder von den Chinachara-Praktiken die Rede, also auf „chinesische Art“, dabei beruft man sich auf den Text Mahachina-Kramachara aus dem Rudrayamala, eine der eindeutigsten linkshändigen Interpretationen.
Unter den Tantrikern scheint das linkshändige Ritual nur von Kaulas, Shaktas und Buddhisten praktiziert zu werden.

Die so genannten fünf Makaras ist der Vira-Teil des Sadhana, der meist geheim gehalten wird. Es handelt sich um fünf „Substanzen“ oder Aggregate, die alle in der traditionellen indischen Lehre ein Tabu verletzen. Ihr Sanskritname beginnt immer mit dem Buchstaben „M“. Im Einzelnen sind dies:
Madya – Wein, Mamsa – Fleisch, Matsya – Fisch, Mudra (hier ist nicht völlig klar, was gemeint ist: verschiedene Kommentare beschrieben es unterschiedlich als geröstetes Getreide, Handgeste, getrocknete Stangenbohne (Bharati) Hanfkuchen (C. Rätsch), Haschisch (Andro) sowie Maithuna - Geschlechtsverkehr.
Das Kularnava-Tantra spricht von prunkvollen Gelagen mit Alkohol, Fleisch, Fisch, Süssigkeiten, Aphrodisiaka.

In einem Text von Abhinavagupta handelt es sich nur um drei M, nämlich Wein, Fleisch und Geschlechtsverkehr. Die Tatsache, dass hier die vedischen Haupt-Tabus genannt sind, lässt die Vermutung zu, dass die anderen beiden M´s später hinzugefügt wurden, als Zugeständnis an die indische Tendenz, alle Phänomene in Fünfergruppen zu systematisieren.

Tantra-Schriften machen auch verschiedene Aussagen zur geeigneten Partnerin für das Ritual. Während einige der Schriften empfehlen, es mit der eigenen Frau zu halten, neigt die Mehrheit zur Auffassung, man sollte es mit einer Parakiya vollziehen, wörtlich der Frau, die einem anderen gehört, also einer Frau, mit der der Ausübende nicht verheiratet ist.
Jayaratha, der Kommentator von Abhinavaguptas Tantrasara, ist der Ansicht, je weniger weltliche Bindung zwischen Sadhaka und der Ritualpartnerin herrscht, desto besser ist das fürs Ritual.

Nach der Logik linkshändiger Praxis ist eine Frau desto besser als Ritualpartnerin geeignet, je größer das Tabu ist, mit ihr zu verkehren. Also werden Kastelose wie Wäscherinnen, Schauspielerinnen und Prostituierte bevorzugt, aber auch Brahmanninen, also die Frauen der höchsten Kaste, die für alle anderen tabu sind. Mit einer Brahmanin zu verkehren, ist für einen traditionellen Hindu ein besonderes Sakrileg.
In späteren Jahrhunderten scheint diese Radikalität im übrigen abhanden gekommen zu sein. Im Mahanirvana-Tantra, dem letzten großen Tantra-Schrift, wird empfohlen, Rituale nur mit der eigenen Frau zu vollziehen.

Wie zu erwarten war, sprechen die Tantras hier in der Regel wieder nur von Standpunkt des Mannes. Was ist mit den Frauen, die am Ritual teilnehmen? Was ist mit ihren Gefühlen, ihrer Innenwelt, inwieweit profitieren sie von den Ritualen? Welche Vorbildung ist bei ihnen nötig? Wo wurden sie ausgebildet? Oder handelt es sich in der Tat nur um Prostituierte oder Frauen aus niederen Kasten, die sich für Geld bereit erklärten, an den Ritualen dabei zu sein, und hauptsächlich mit ihrer Anwesenheit den Männern bei ihrer Vervollkommnung dienten? Solche Fragen muss man heutzutage stellen. Leider geben die erhaltenen Dokumente nur wenig Rückschlüsse darüber.

Abgeschwächte Formen des Rituals

Es gibt zwei Gründe, dass das Ritual nicht real und mit echten Substanzen durchgeführt wird. Das eine ist das Ritual für die pashu-Stufe, also die die Schüler, denen der Guru nicht zutraut, frei von Dualitäten und Leidenschaften zu sein. Hier wird mit mit Ersatzmitteln (pratinidhi) gearbeitet, die die 5 M´s symbolisch interpretieren . Anstatt Wein wird Kokosmilch, Milch oder Ghee, anstelle von Fleisch Ingwer, Knoblauch oder Weizenbohnen. Fisch wird durch
Radieschen, dal, Aubergine, roten Sesam oder Zitrone ersetzt. Das Getreide scheint sowohl im Pashu- als auch im Vira-Sadhana identisch zu sein. Anstelle des Geschlechtsverehrs findet ein Blumenopfer statt, nach Angaben von Bharati kann es in manchen Fällen auch zur Vereinigung mit der Ehefrau kommen.

Die Vertreter des rechtshändigen Tantra lehnen die reale Durchführung der Rituale insgesamt ab und bezeichnen das als Verirrung. Sie versuchen die Substanzen symbolisch zu interpretieren. Der Wein wird hier zum Rausch der Gotteserkenntnis, das Fleisch die Widmung aller Dinge an Shiva, der Fisch das Gefühl des Einsseins, die Mudra das Aufgeben aller Untugenden, das Maithuna schließlich symbolisiert Vereinigung der Kundalini mit Shiva im höchsten Chakra.
Gegner des linkshändigen Tantra sind der Ansicht, dass man die 5m´s nur symbolisch verstehen darf und die grobstoffliche Praktik eine schwere Verirrung darstellt. (Anand Nayak)

Die Ambivalenz des linkshändigen Rituals

Das Ritual ist aus Sicht der Tantras ein Grenzgang; es kann den Weg zu innerer Verwirklichung abkürzen, aber auch für die menschliche Seite verhängnisvoll werden.
Wenn die Teilnehmenden in einer dualistischen Haltung bleiben und sich den selbstzerstörerischen Spielen des Ichs überlassen, werden sie in eine der Befreiung entgegen gesetzte Richtung fahren
Das Kularnava-Tantra warnt, dass, wer bei einem solchen Ritual hauptsächlich aus hedonistischen oder sexuellen Zwecken und ohne spirituelles Ziel dabei ist, sich selbst zerstören wird (AM).
Man kann sagen, es handelt sich um eine schwierige, und wenn falsch ausgeführte, dem spirituellen Fortschritt abträgliche Methode, z.B. sollte der Sadhaka frei von Begierde sein und in seiner Partnerin wirklich die Shakti erkennen.

Abhinavagupta: „Zum eigenen Nutzen sollte man das Kula-Ritual nicht mit denen durchführen, die Brahman nicht kennen, denen das freie Spiel des Atems versagt bleibt und die Gier, Trunkenheit, Ärger, Verlangen und Illusion erliegen.“
Wiederholte Male wird erwähnt, dass ein Adept der Hölle verfällt, wenn er verbotene Dinge genießt, ohne ein Vira zu sein.
Dem westlichen Adepten, der viele Schranken hinter sich gelassen hat, fehlen nach Lilian Silburns Aussagen für diese Rituale zwei Dinge: die Reinheit des Herzens und einen äußeren Meister.
Der Adept sollte von einem Meister - am besten, von einer Yogini- in einer der Traditionen eingeweiht sein. (LS)

Tantra und Drogen

Es gibt Hinweise darauf, dass die meisten Tantriker mit Rauschpflanzen und Drogen experimentiert haben, sei es, um verschiedene psychophysische Zustände zu erzielen, sei es, um Hemmungen abzubauen oder zur aphrodisischen Stimulation. Das lässt sich eindeutig bei Tantra-Experten wie A. Bharati, Helmut Uhlig, Peter Gäng, Nik Douglas, Mircea Eliade oder Ajit Mookerjee nachlesen.
„Es kann nicht den geringsten Zweifel daran geben, dass Hindus, und auch Buddhisten, in früheren Zeiten die Einnahme psychedelischer Drogen als Bestandteil der Sadhana ansahen, wenn auch vielleicht nur in den Anfangsstadien“ (Bharati)

Christian Rätsch und Claudia Müller-Ebeling bezeugen in ihrer Feld-Studie über Schamanismus und Tantra im heutigen Nepal, welch umfassendes Wissen über bewusstseinserweiternde Substanzen unter nepalesischen Schamanen verbreitet ist, die viele Überschneidungen mit den Tantrikern haben. Und dass die Schamanen sowohl beim Genuss von Alkohol als auch anderen Drogen weitaus weniger zimperlich sind, als man sich das als alternativer Westeuropäer so vorstellt.
Aus diesen Erkenntnissen und Darstellungen der alten Tantra-Schriften lässt sich drüber spekulieren, ob Drogen beim Weg des Tantra nicht eine weitaus höhere Rolle gespielt haben, als heute allgemein angenommen.

Drogen sind illusorischer Natur, können magische Kräfte wachrufen und sind recht unberechenbar. Transzendentale Drogen haben das Bewusstsein an und erweitern es – die Gefahr besteht, dass das Negative und Instabile auch verstärkt wird. Dann kann es zu erschreckenden Ergebnissen führen.
Wenn diese Drogen jedoch mit yogischer Vorbereitung in einer geschützten Umgebung unter fachkundiger Anleitung genommen werden, können sie zu ekstatischen und transzendenten Erfahrungen führen. Nicht zu empfehlen sind jedoch dämpfende Substanzen wie Opiate oder Nikotin, sie führen zu Disharmonie im subtilen Körper.
Rechtshändige Praxis lehnt Drogen kategorisch ab und hält sie schädlich für die Kundalini-Entwicklung.

Ebenso kontrovers wird die Diskussion bezüglich der Verwendung von Alkohol geführt. Im linkshändigen Tantra sowie im buddhistischen Anuttara-Tantra wird Alkohol als Ritualsubstanz gewertschätzt und zum Teil werden erhebliche Mengen konsumiert. Insgesamt scheint es in asiatischen Kulturen ein eher positives Verhältnis zu Alkohol zu geben, (siehe Rätsch und Müller-Ebeling über das Trinkverhalten nepalesischer Schamanen und Tantriker) aber auch Ausflüge in die Welt des Taoismus in China oder des Zen in Japan zeigen, dass Berauschung mit Alkohol oft analog zu spiritueller Berauschung gesehen wird.
Andererseits wird das Trinken von Alkohol in weißen und rechtshändigen Wegen vielfach abgelehnt bis verdammt als Bruch sowohl der yogischen Yamas als auch des buddhistischen Kodex des Sila.
Es scheint so zu sein, dass Alkohol nur von initiierten Personen innerhalb eines Ritus seine segensreiche Wirkung entfacht. Einen Vira kennzeichnet auch, dass er nicht mehr trinkt, als er in Transzendenz auflösen kann.

Bezüglich des Nikotins sind sich die meisten Schulen einig darüber, dass es für die Praxis absolut nicht förderlich ist. Das Rauchen aufzugeben, scheint ein wichtiger Schritt auf dem tantrischen Weg zu sein.
In verschiedenen Vajrayana-Schulen gibt es explizite Belehrungen über die Schäden des Tabakrauchens.

Konflikte mit dem etablierten Hinduismus

Praktiken dieser Art führten historisch natürlich zu starken Konflikten mit dem etablierten Hinduismus. Nach Bharatis Ansicht entspricht schon die Unterscheidung zwischen Pashu und Vira nicht dem ursprünglichen Grundgedanken und ist eine Konzession, ein Versuch, das Establishment zu besänftigen, weil man einräumt, dass die ungewöhnlichen Riten nur für halbgottgleiche, fortgeschrittene Yogis gedacht sind und nicht fürs gemeine Volk.
Die moralischen Ermahnungen in den Tantras sind wahrscheinlich nur ein Trick, um sie dem Inder schmackhafter zu machen. Die Tantras lehren nicht, die Sinne auszuschalten, sondern ihre Kraft zu steigern und sie dann dazu einzusetzen, um dauerhafte Enstase zu erzielen.
„Durch die gleiche Handlung, durch die ein gewöhnlicher Mensch sich geistig ruiniert, erlangt der eingeweihte Yogi dauerhafte Befreiung von den Fesseln von Geburt und Tod“ (Kularnava Tantra, nach Bharati) 

Die Konflikte mit dem traditionellen Hinduismus zeigen sich auch durch Vorsichtsmaßnahmen, die in den Tantras stehen: das Kularnava-Tantra (12 Jh.) empfiehlt die völlige Geheimhaltung der Chakra-Pujas. Im späteren Mahanirvana-Tantra, das ein Versuch ist, Tantra mit dem traditionellen Hinduismus zu versöhnen, heißt es, die Ritualpartnerin sollte wegen der Gefährdungen des Kali-Yuga die eigene Frau sein.
Das mag auch ein Grund sein, warum tantrische Lehren außerordentlich verschwiegen sind und haben vieles bis heutzutage geheim gehalten haben, z.B. durch die Sandha-Sprache, die nur die Tantriker kennen.

Auch heute noch ist für den typischen Brahmanen der linke Weg ein öffentlicher Skandal.  Die Gegner des Tantra behaupten, die Tantriker würden vorgeben, religiös zu sein, um dem Saufen und der Hurerei zu frönen. Dem setzt Bharati entgegen, dass dies selbst im heutigen Indien einfacher zu haben ist als durch Rituale, die eine lange Vorbereitungszeit brauchen und in denen stundelang Mantras gesungen und Gottheiten angerufen werden.

Tantra und Zauberei
Es gibt deutliche Hinweise auf die jahrhundertelange Vermischungen des Tantra und Yoga mit den Brauchtümern vorarischer Völker, z.B. in Assam, und der Umwertung ihrer Bräuche in einen yogisch-tantrischen Kontext (Eliade).
 Die Ausschweifungen haben in der Ökonomie des Sakralen eine heilbringende Rolle: „sie brechen die Schranken zwischen Mensch, Gesellschaft, Natur und Göttern, fördern den Umlauf der Kraft, des Lebens, der Keime, von einer Ebene zur anderen und zwischen allen bereichen der Realität. Was leer war an Substanz, füllt sich wieder, was angebrochen war, ergänzt sich wieder in die Einheit, was abgesondert war, wird wieder eingeschmolzen in den großen allgemeinen Mutterschoß. Die Orgie bringt die lebendige und heilige Kraft in Umlauf.“ (Eliade)

Linkshändige, schwarzmagische Praktiken hatten sich in einigen Kulten etabliert und wurden vom Volk als Zauberei und gleichzeitig als große Freiheit von Unwissenheit und den gesellschaftlichen Bindungen wahrgenommen. Dies muss man auch vor der Hintergrund sehen, dass Mönche und Swamis in Indien im Gegensatz zu unserer Kultur als außerhalb der Gesellschaft stehend angesehen werden.

Hier wären die Aghori zu erwähnen, eine Gruppe shivaitischer Asketen, die auf Friedhöfen lebten. Noch im 19. Jh. essen sie aus Schädelschalen, ernähren sich von Unrat aller Art oder von menschlichen Leichen. Sie leben streng zölibatär, verehren keine Bilder und außer Gott respektieren sie nur ihren Guru. Jeder Guru hatte immer einen Hund bei sich.
Die Aghori sind die Nachfolger eines älteren Ordens, den Kapalikas. Sie verehren Shiva als Mahakala und als Kapala-Träger. Sie gleichen den Vamachari, treiben aber die orgastischen Praktiken und auch die rituellen Grausamkeiten ins Extrem. Sie scheinen große Macht gehabt zu haben und waren beim Volk gefürchtet. Es gibt allerlei Zeugnisse über ihre Orgien und Rituale aus der Feder von Reisenden oder Geschichtsschreibern. Sie hinterließen jedoch keine Schriften.

Schwarzmagische Praktiken, z.B. Meditation über Kali in ihrer zerstörerischsten Form, sind im Tantra existent, wie im übrigen auch schon im Atharva-Veda. Der geistige Hintergrund ist, dass jede Kraft, ob gut, ob schlecht, zur Quelle führen kann.
Durch das magische Prinzip des Gegensatzes versucht der Vira, seine Macht durch gezielte Tabubrüche zu erweitern. Das geht so weit, dass Tantriker und Schamanen in den Himalaya-Regionen sich z.B. von Kobras beißen lassen, um ihre „Shakti“ zu erhöhen. Auch Experimente, wie viel Alkohol man vertragen kann, ohne die innere Ausgeglichenheit zu verlieren, gehören in den indischen und tibetischen Traditionen dazu.
Noch zu erwähnen wäre die Shava-Sadhana: ein Leichnam wird gebadet, mit Nyasa verehrt und als Shakti visualisiert, am Ende wird der Leichnam beerdigt und verbrannt.
Entscheidend ist, dass der Vira genau einschätzen kann, wie viel der „Tabu-Substanz“, sei es nun Sexualität, Gift oder weltliches Vergnügen, er „auflösen“ oder verarbeiten kann, während derjenige, der sich nicht beherrschen kann und dem Vergnügen verfällt, als Pashu gilt und scheitert.
Das ist einer der Gründe, warum der Tantra-Weg so delikat ist und genauer Anleitung bedarf.

Zusammenfassung
Der linkshändige Weg des Tantra wendet sich an willensstarke und ethische Menschen, die bestimmte Qualitäten haben. Im Gegensatz zum gewöhnlichen „Pashu“ = Tier ist der „Vira“ = Held in der Lage, paradoxe Handlungen zu vollziehen, und Energie aus gezielten rituellen Tabubrüchen umzuwandeln. Dies erfordert hohe Wachheit und Konzentration sowie die Bereitschaft, jenseits gesellschaftlicher Moralschranken zu leben.
Traditionell gesehen vollziehen Viras Rituale, in denen Tabus der Veden wie der Genuss von Wein, Fleisch und Fisch rituelle gebrochen werden, ebenso wird der Geschlechtsverkehr rituell vollzogen. Auch Drogen und weitere Tabu-Substanzen werden zuweilen eingesetzt. Diese Rituale sind hochsakral und sollen äußerst subtile Energien freisetzen, sind also nicht mit profanen Ausschweifungen zu vergleichen. Dennoch hat diese Praxis den tantrischen Weg in Indien in Verruf gebracht.