Einweihung


Zuerst möchte ich etwas Allgemeines sagen: ich bin kein Meister und kein profunder Kenner der buddhistischen Tantras. Was ich auf den nächsten Seiten darlege, entspricht meinem bescheidenen Wissens- und Kenntnisstand und hat vor allem den Zweck, über diese Praxis zu informieren und vielleicht das Interesse der Leser zu erwecken. Das soll auf keinen Fall als Kurz-Anleitung zu eigener Praxis verstanden werden. Wer sich dafür eingehender interessiert, wird nicht drum herum kommen, sich einen Lama und eine Schule zu suchen. Inzwischen gibt es auch im Westen viele Angebote.

Die eigentliche Praxis beginnt mit einer Einweihung durch einen Guru bzw. Lama in ein bestimmtes Gottheitsmandala und eine bestimmte, dem Adhikara des Schülers gemäße Ishta-Devata (tib. Yidam).
Der Schüler erhält durch den Guru die Ermächtigung von der Linie (eine Übersetzung des Wortes Tantra ist „ungebrochene Kontinuität“) und wird dadurch an eine bestimmte Energiequelle angeschlossen. Der Schüler bemüht sich, die Einheit von Gottheit, Meister und sich selbst zu erfahren und später während und auch außerhalb der Meditation immer wieder aufrechtzuerhalten.
Eine Einweihung ist gleichzeitig ein Ritual und auch ein tiefes Band zwischen Lehrer und Schüler, das die inneren Kräfte des Schülers zum Leben erweckt. Das erfordert von beiden hohe Wachsamkeit und Präsenz.
Einweihungen können im Buddhismus auch wiederholt werden oder immer wieder gegeben werden. Meist werden auch aufeinander folgende Einweihungen in immer fortgeschrittenere Praxissysteme gegeben. Das kann der Tradition zufolge durchaus auch bei einem anderen Lama sein.

In der Regel geht der Initiation in ein Mandala eine lange Zeit der Reifung und Prüfung voraus, in der der Schüler sich ausgebildet und auf diesen Moment vorbereitet hat.
Die Weihe geht nun in mehreren Schritten vor sich:
Nach der Reinigung durch Enthaltsamkeit, Fasten und Bad wird ein Ort gewählt und die Zeit sorgfältig festgesetzt. Durch Berührung mit einem Vajra werden die Dämonen vertrieben und die Fläche gereinigt. Das Mandala der gewählten Gottheit wird auf den Boden oder einen Altar gezeichnet. Dann werden die Götter des Mandala durch den Meister im liturgischen Ritual mittels Ritualgefäßen beschworen.
Der Schüler entsagt allen weltlichen Wünschen, nimmt Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha und gelobt, ohne Zögern und Reue den Weg des Bodhisattva zu gehen.
Er wird mit verbundenen Augen ans Mandala geführt, wo ein Orakel seine Zugehörigkeit zu einer der Vajra-Familien bestimmt.

Nach einer Prüfung der nötigen Verbindung zum Meister folgt die eigentliche Weihe:
Der Schüler visualisiert sich selbst, zuerst provisorisch, als Form der Gottheit. Lichtstrahlen aus seinem Herzen ziehen das Weisheitswesen in gleicher Form an. Diese Wesen wird nun mannigfaltig, z.B. achtfach, mit Wasser, Blumen, Weihrauch etc. verehrt. Dann wird es mittels der vier Silben jah-kum-vam-bo und eines bestimmten Mudra angezogen und gebunden und verschmilzt mit dem vorgestellten Bild – somit wird er durch dieses Ritual „auf magische Weise tatsächlich“ eins mit der Gottheit. Auf diese Weise wird die Scheinwelt transzendiert, und der Sadhaka hat nun Anteil an der Welt der Archetypen (Tucci).
Der Gott bezieht in ihm eine Wohnstätte. Dies soll einen entscheidenden Läuterungspunkt darstellen. Anstelle der gewöhnlichen Psyche tritt ein erleuchtendes Bewusstsein, das sich mehr und mehr des Sadhaka bemächtigt.

In der nächsten Phase wird die Weihe von den fünf Dhyani-Buddhas vollzogen, als Zeichen, dass sie diese Verwandlung gutheißen. Sie treten dabei in ihn ein, um aus ihm auszustrahlen. Dadurch gelangt er in die Mitte des Mandalas, an den Seinsgrund des Kosmos.
In manchen Einweihungszeremonien schreitet der Schüler ein großes dreidimensionales Mandala von außen nach innen ab. Meistens aber ist das ein geistiger Prozess, dass er sich auf die Zeichnungen des Mandala konzentriert und alle lichthaften Gestalten aus seinem Herzen ausströmen lässt und dann wieder zurückzieht. Schließlich wird das Mandala geistig aufgelöst, und es findet ein Abrücken in eine formlose Lichtebene statt. Im Weiteren wird das Mandala als höchste Form in den Körper des Sadhaka übertragen.

Gelübde

Einweihungen sind auf beiden Seiten mit der Einhaltung bestimmter Gelübde, den so genannten Samayas, verbunden. Es gibt 14 tantrische Hauptgelübde, darüber hinaus einige Nebengelübde sowie Gelübde, die der bestimmten Klasse der Tantras zugeordnet sind (man unterscheidet Vater-, Mutter-, und nonduale Tantras). Sie bilden zusammen mit grundsätzlicheren Normen, die die Tantras mit anderen buddhistischen Richtungen teilen, das ethische grundgerüst des Weges.
Alleine die Einhaltung dieser grundsätzlichen Regeln, so die Schriften, führe schon zur vollständigen Leerheits-Erkenntnis.
Um die tantrische Lebensweise angemessen beschrieben zu können, empfiehlt es sich, zumindest die Hauptgelübde hier zu skizzieren. Ich stütze mich auf Helmut Poller und auf die Ausführungen von Alexander Berzin zur Kalachakra-Initiation.


1. den Vajrameister nicht verachten oder verspotten
Jeder Lehrer, von dem der Praktizierende Ermächtigung, Texterklärung mündliche Anweisungen erhalten hat. Ihnen soll keine Verachtung gezeigt, Fehler nachzusagen oder sie lächerlich zu machen. Man sollte sich ihnen gegenüber stets respektvoll und höflich verhalten Die Belehrungen und Ratschläge sollten nicht in Zweifel gezogen werden.
2. Die Worte der Buddhas befolgen
Die Belehrungen erleuchteter Wesen, die die tantrischen Gelübde betreffen, sollen eingehalten werden, unabhängig davon, ob diese Person der Buddha selbst ist oder ein späterer großer Meister.
3. Kein Streit unter Vajrabrüdern und Vajraschwestern
Unter Vajrabrüdern und -schwestern versteht man diejenigen, die tantrische Gelübde halten und vom selben tantrischen Meister eine Ermächtigung in das System eines Yidam einer der Tantraklassen erhalten haben. Einer Person mit dem Wunsch, ihr zu helfen, ihre Schwächen in freundlicher Weise zu zeigen, ist kein Fehler. Ist die Motivation jedoch Feindseligkeit, Ärger oder Hass bestehen, liegt ein Gelübdebruch vor.
4. Die Liebe für die fühlenden Wesen niemals aufgeben
Liebe ist der Wunsch, dass andere glücklich sein und die Ursachen für Glück besitzen mögen. Die Übertretung ist, irgendeinem Wesen, sei es auch der schlimmste Serienmörder, das Gegenteil zu wünschen – also jemandem zu wünschen, dass er des Glücks und seiner Ursachen beraubt sein möge.
5. Bodhichitta niemals aufgeben
Man soll aufhören, das Selbstbild zu nähren, dass man unfähig sei, die Buddhaschaft zum Wohle aller Wesen zu erlangen.
6. Die eigenen Lehren oder die Lehren anderer nicht verspotten
Man soll nicht behaupten, dass eine der schriftlichen buddhistischen Lehren nicht Worte des Buddha sind. „Lehren anderer“ bezieht sich auf die Sutras des Mahayana-Fahrzeugs, während „die eigenen“ die Tantras sind, die auch in die Mahayanagruppe gehören.
7. Nicht-Initiierten keine vertrauliche Lehren enthüllen
Diese Übertretung des Wurzelgelübdes entsteht, wenn eine dieser vertraulichen Prozeduren, jemandem, der dafür unreif ausreichend detailliert erklärt wird, so dass er oder sie genug Informationen besitzt, um die Praxis auszuprobieren. Unreife bezieht sich dabei auf mangelnde Ermächtigung von Seiten eines Guru und nicht auf die subjektive persönliche Einschätzung .
8. Unsere Aggregate nicht verschmähen oder verachten
Mit Aggregaten sind hier die 5 Skandhas gemeint, also Körper, Wahrnehmung, Emotion und Bewusstsein.
Wer die tantrische Sichtweise nicht kennt, verachtet möglicherweise den Körper, denken, dass unser Geist nichts wert ist und halten unsere Gefühle für etwas Negatives. Das wäre hier ebenso eine Übertretung wie die Vergiftung von unseren Körper oder Geist durch masochistisches Verhalten, einen unnötig gefährlichen oder bestrafenden Lebensstil oder die Abhängigkeit von Suchtsubstanzen.
9. Die Leerheit immer pflegen
Volles Vertrauen in die Leerheitslehre des Mahayana ist für die Tantra-Praxis unabdingbar. Wenn wir die Leerheit im Verlauf unserer Praxis ablehnen oder versuchen, eine dieser Praktiken außerhalb dieses Kontextes durchführen, könnten wir ansonsten zum Beispiel glauben, dass unsere Visualisationen eine feste Realität sind. Derartige Fehlvorstellungen führen lediglich die Leiden Samsaras fort und können sogar zu geistiger Unausgeglichenheit führen.
10. Distanz zu übel wollenden Menschen halten
Übelwollende Menschen verachten entweder unseren persönlichen Lehrer, spirituelle Meister im Allgemeinen oder die Buddhas, den Dharma oder den Sangha oder sie schaden oder verletzten zusätzlich einen der oben Genannten. Obwohl es unangemessen ist, den Wunsch aufzugeben, dass eine derartige Person glücklich sein und die Ursachen für Glück besitzen möge, ist es eine Übertretung der Wurzelgelübde, wenn wir uns ihnen gegenüber liebevoll verhalten oder liebevoll mit ihnen sprechen.
11. Kontinuierlich über Leerheit meditieren
Sobald einmal ein Verständnis der Mahayana- Sichtweise der Leerheit erlangt ist, ist es eine Übertretung der Wurzelgelübde, wenn wir mehr als einen Tag und eine Nacht verstreichen lassen, ohne über Leerheit zu meditieren.
12. Die, die Vertrauen haben, nicht abschrecken
Dies bezieht sich darauf, absichtlich andere Leute von einer bestimmten tantrischen Praxis abzubringen, zu welcher sie Vertrauen haben und für die sie ein geeignetes Gefäß, mit korrekter Ermächtigung usw., darstellen.
13. Sich korrekt auf die Substanzen stützen, die uns stark mit der tantrischen Praxis verbinden
Die Praxis des Anuttarayoga-Tantras beinhaltet, an regelmäßigen Darbringungszeremonien teilzunehmen, sogenannten Tsog-Pujas. Innerhalb dieser Zeremonien kostet man Alkohol und Fleisch, die auf bestimmte Weise gesegnet wurden. Diese Substanzen symbolisieren die Aggregate und die Elemente des Körpers– Faktoren also, die normalerweise verstörend sind, die aber ihrer Natur nach fähig sind, tiefes Gewahrsein zu verleihen, wenn sie von Verwirrung getrennt sind und auf dem Pfad genutzt werden. Die Übertretung besteht darin, diese Substanzen als widerlich anzusehen, sie aus dem Grund abzulehnen, dass man ein Abstinenzler oder ein Vegetarier ist, oder aber im Gegenteil sie in großen Mengen mit Begeisterung und Anhaftung zu sich zu nehmen.
Eine Ausnahme ist bei trockenen Alkoholikern erlaubt: diese können sich beim Tsog nur vorstellen, den Alkohol zu kosten.
14. Frauen niemals verachten oder verspotten
Im Anuttarayoga-Tantra steigern Männer ihre Glückseligkeit des konzentrierten Gewahrseins der Leerheit sogar noch darüber hinaus, indem sie sich auf Frauen stützen. Diese Praxis beinhaltet, sich entweder auf eine tatsächliche Frau, eine Karmamudra zu stützen, die zur Vermeidung von Verwirrung als weibliche Buddhaform visualisiert wird, oder, im Falle von verfeinerteren Fähigkeiten, allein auf lediglich visualisierte weibliche Buddhaformen , die so genannte Jnanamudra.
Frauen steigern ihre Glückseligkeit aufgrund von Männern auf ähnliche Weise, indem sie sich auf die Tatsache ihres Frauseins stützen. Daher ist es eine Übertretung der tantrischen Wurzelgelübde, eine bestimmte Frau, Frauen ganz allgemein oder eine weibliche Buddhaform herabzusetzen, sich über sie lustig oder sie lächerlich zu machen oder sie als minderwertig zu betrachten. Wenn Verachtung mit der Absicht, alles Weibliche lächerlich zu machen, direkt gegenüber einer Frau geäußert und von ihr verstanden wird, ist diese Übertretung vollständig. Obwohl es unangemessen ist, sich über Männer lustig zu machen, stellt dies keine Übertretung der tantrischen Wurzelgelübde dar.